Wenn die Welt einen Goldstandard einführen würde, dann müsste die vorhandene Goldmenge als Speicher des globalen Computers fungieren, den die Menschheit zur Planung ihrer wirtschaftlichen Zukunft verwendet. Daher ist der Goldstandard eine ziemlich pessimistische Idee. Wenn wir unser Modell, wie wir die Zukunft gestalten wollen, auf die Speicherkapazität von etwa 50 Milliarden Feinunzen beschränken würden,15 würden wir damit im Grunde sagen, dass die Zukunft keine überraschenden Werte mehr bereithält.
Geld hat nur einen Wert, wenn die Menschen ihm diesen Wert zuschreiben, daher ist es sinnlos, über den absoluten Wert des Geldes zu diskutieren. Allerdings können wir über den Informationsgehalt von Geld sprechen. Wenn wir beim Zählen dessen, was wir eventuell in der Zukunft für wertvoll erachten, nur die Bits verwenden, die bereits in der Vergangenheit gezählt wurden, betrachten wir das, was in der Zukunft entdeckt oder erfunden werden könnte, unter Wert. Wir glauben dann nicht an das Potenzial der Menschen, die einander Versprechen abgeben, um etwas Neues und Großartiges zu erreichen. Und die Zukunft hat immer wieder bewiesen, dass sie großartiger ist, als sie sich irgendjemand je erträumt hätte.
Die Umwandlung von Geld in eine abstrakte Repräsentation der Zukunft (das, was wir »Finanzieren« nennen) begann vor etwa vierhundert Jahren und hat seitdem immer wieder neue Schübe erfahren, etwa in den wirtschaftlichen Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Um zu verstehen, was aus dem Konzept Geld seit dem Auftauchen günstiger digitaler Netzwerke geworden ist, müssen wir bedenken, dass in den vorangegangenen Jahrhunderten der Wohlstand und das Wohlergehen der Bevölkerung in den Industriegesellschaften insgesamt beständig zunahmen, auch wenn es immer wieder Einbrüche und natürlich auch furchtbare Kriege gab. Doch selbst angesichts dieser vielen schrecklichen Episoden war es unmöglich, nicht an die Zukunft zu glauben.
Zusammen mit dem europäischen Zeitalter der Entdeckungen und der Aufklärung entstand eine optimistische neue Form des Gedächtnisses, die auf den Versprechungen zukünftigen Verhaltens im Gegensatz zum bereits Geschehenen basierte. Das künstliche Gedächtnis wurde notwendigerweise stärker personenzentriert. Es gab keine andere Möglichkeit, Geld in Hinblick auf die Zukunft zu definieren, oder anders ausgedrückt, sich im Bereich Finanzen zu engagieren. Nur Personen, nicht die leblosen Informationen, konnten Versprechen darüber abgeben, was sie in der Zukunft tun würden. Ein Dollar ist und bleibt ein Dollar, egal wem er gehört, und Wertpapiere können immer wieder den Besitzer wechseln. Aber ein Versprechen gehört zu einer ganz bestimmten Person, sonst ist es nichts wert.
Der kürzlich erfolgte Zusammenbruch der Finanzwelt kann als Symptom der trügerischen Hoffnung betrachtet werden, dass die Informationstechnologie eigenständig Versprechen abgeben kann, ohne dass dazu Menschen nötig sind.
Kapitel 4 Die Ad-hoc-Konstruktion der Würde der Masse
Ist die Mittelschicht etwas Natürliches?
Zeitgleich mit dem Aufkommen der Finanzwirtschaft vor etwa vier Jahrhunderten entstanden neue Technologien, die das Leben und die Gesundheit von Millionen Menschen verbesserten. Es kam außerdem zur wundersamen Herausbildung der Mittelschicht. Im Zusammenhang mit diesem Wandel stellt sich die Frage, warum nicht mehr Menschen und vor allem nicht früher von den Vorteilen der Moderne profitieren. Wenn die Technologie immer besser wird und es so viel Wohlstand gibt, warum sollte es überhaupt noch Armut, Hunger und Elend geben?
Der technische Fortschritt weckt unweigerlich den Wunsch nach immer neuen Verbesserungen. Wir erwarten von der modernen Medizin, dass ihr keine Fehler unterlaufen, und von modernen Flugzeugen, dass sie nicht abstürzen. Dabei war es vor einem Jahrhundert noch unvorstellbar, sich so etwas auch nur zu wünschen. Auch in der modernen Finanzwelt gehen Errungenschaften mit Misserfolgen einher.
Wenn man sich die Finanzmärkte als große, weltumspannende Kapitalströme vorstellt, liegt es nahe, dass es auch Untiefen, Wasserstürze und Stromschnellen gibt. Es gibt Strudel, die wirbeln alles nach oben, andere ziehen alles in die Tiefe. Oft war es so, dass die Armen ärmer und die Reichen noch reicher wurden. Marx verwandte einen Großteil seiner Energie darauf, diese Tendenz zu beobachten, doch um sie zu bemerken, muss man kein Experte sein.
Versuche, sich gegen den Strom zu stemmen und die Finanzen völlig durch die Politik zu ersetzen, wie es die kommunistischen Staaten versucht haben, zeitigten meist noch grausamere Folgen als selbst die schlimmsten Fehlfunktionen des Kapitals. Damit bleibt die Bekämpfung der Armut in einer Welt, die von den Finanzmärkten beherrscht wird, ein Problem.
Marx wollte etwas, was die meisten Menschen, mich eingeschlossen, nicht möchten: eine Kontrollinstanz, die dafür sorgt, dass alle das bekommen, was für sie am besten ist. Verwerfen wir also das marxistische Ideal und überlegen stattdessen, ob man sich darauf verlassen kann, dass Märkte von selbst eine Mittelschicht schaffen.
Marx argumentierte, dass Finanzmärkte diktatorische Instrumente seien, dass marktwirtschaftliche Systeme stets in den alten Trott zurückfallen und zu einer Plutokratie degenerieren würden. Ein Keynesianer würde zugeben, dass es diesen Trott gibt, würde aber einwenden, dass man ihn durch entsprechende Interventionen vermeiden könne. Es gibt zwar auch anderslautende Theorien, doch bislang hat die Mittelschicht, wenn es um ihr Überleben ging, auf diese Interventionen vertraut.
Großer Reichtum hat von Natur aus eine gewisse Beständigkeit über Generationen hinweg. Das Gleiche gilt auch für große Armut. Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht allerdings hat sich bisher nicht als sonderlich stabil erwiesen. Um diesen Status zu wahren, benötigt man oft ein wenig Hilfe. Alle bekannten Beispiele für eine langfristig stabile Mittelschicht stützen sich auf keynesianische Interventionen und auf dauerhafte Mechanismen wie soziale Sicherungssysteme, um die Auswirkungen des Marktes zu mildern.
Es ist jedoch möglich, dass digitale Netzwerke eines Tages eine bessere Alternative zu diesen Mechanismen und Interventionen bieten. Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit menschlichen Systemen an sich beschäftigen.
Zwei Verteilungskurven
Es gibt zwei bekannte Grafiken zur Darstellung gesellschaftlicher Mehrheitsverhältnisse. Die eine veranschaulicht das sogenannte »Starsystem« nach dem Prinzip »The winner takes it all«. Sie zeigt, dass es, wie zum Beispiel im Filmgeschäft oder im Sport, immer nur wenige »Stars« geben kann. Dadurch bildet sich eine Spitze, bestehend aus einer kleinen Anzahl von Topleuten, gefolgt von einem langen Ausläufer oder »Long Tail« mit all den anderen, die deutlich schlechter abschneiden. Wir haben also »Stars« und solche, die es gern wären, aber keine breite Mitte.
Das Starsystem
Die Verteilung der Ergebnisse bei den aktuellen, digital vernetzten, hypereffizienten Märkten verläuft meistens nach dem Starsystem. Das gilt beispielsweise für Startup-Unternehmen im Hightech-Bereich: Nur einige wenige haben Erfolg, wenn sie es allerdings schaffen, dann können sie ein enormes Vermögen machen. Das Prinzip gilt auch für normale User der Online-Welt: Nur extrem wenige schaffen es, tatsächlich Geld mit einer App fürs Smartphone oder mit einem Video zu verdienen, das sie bei YouTube hochgeladen haben. Die meisten träumen nur davon und scheitern.
Die andere bekannte Grafik ist die »Glockenkurve« oder die »Normalverteilung«. Sie besagt, dass das Gros der Gesellschaft aus durchschnittlichen Menschen besteht, die einen »mittleren« Berg bilden mit zwei Ausläufern links und rechts mit den von der Norm abweichenden Menschen. Glockenkurven ergeben sich aus den meisten personenbezogenen Erhebungen, denn so funktioniert nun einmal Statistik. Das trifft sogar zu, wenn die Messung manipuliert ist oder auf subjektiven Kriterien basiert. So gibt es zum Beispiel keine eindeutige Definition von »Intelligenz«, dennoch machen wir Intelligenztests, deren Resultate dann tatsächlich eine Glockenkurve ergeben.
Die Glockenkurve oder »Normalverteilung«