Kalte Nacht. Anne Nordby. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Nordby
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839263587
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laute Stadt. Das entfernte Rauschen des Verkehrs, die Martinshörner, das Glockenläuten der Kirchen, das Geplapper der Menschen. Ein Geräuschteppich, der sich stets dämpfend über ihre Gedanken legt. Doch in der beängstigenden Stille Schwedens gibt es diesen schützenden Puffer nicht. Hier liegen ihre Gedanken offen wie der entzündete Nerv eines Zahns.

      Sie muss etwas finden, mit dem sie sich ablenken kann. Muss die fünf Wochen irgendwie überleben. Jochen darf nichts von ihren Sorgen wissen. Er will zelebrieren, dass sie eine Familie sind, indem er das Haus für sie herrichtet. Eine Schöpfungsgeschichte der ganz eigenen Art. Am ersten Tag schuf Jochen die Harmonie. Dann erst kam das Licht.

      Tina spürt, wie Tränen ihre Wange hinabrinnen und ins Spülwasser tropfen. Sie sind schon oft alle zusammen im Urlaub gewesen, als Familie. Aber nie hat es sich so bedrohlich angefühlt wie dieses Mal.

      »Heulst du etwa?«

      Tina schreckt zusammen. Rasch wischt sie sich über das Gesicht und dreht sich um. Lola lehnt lässig im Türrahmen. Ihre langen blonden Haare fallen offen über ihre Schultern, und ihr jugendliches Gesicht wirkt wie modelliert. Tina runzelt die Stirn. Hat Lola etwa Mascara und Lippenstift aufgetragen? Wofür? Sie sind mitten im Wald.

      »Nein, ich habe nicht geweint«, entgegnet sie mit fester Stimme.

      »Du lügst. Ich seh es doch.« Lola blickt sie abschätzend an. Ihre roten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das Tina nur schwer deuten kann. Mit ausgestreckten Armen geht Lola plötzlich auf sie zu und will sie umarmen.

      Erschrocken weicht Tina zurück. »Nein. Bleib weg!«

      Verblüfft hält Lola inne. Synchron zu ihren Mundwinkeln lässt sie die Arme sinken. »Jenny hat recht«, entgegnet sie bissig, »du bist ein Eisklotz.«

      Am ganzen Körper bebend schaut Tina sie an. Einfach alles an Lola strahlt Verachtung aus. Ihre Augen, ihre Haltung, ihr verzerrter Mund. Verzweifelt sucht Tina nach Worten. So etwas wie: »Tut mir leid, ich hab dich ja auch lieb.« Oder: »Komm her, das war nicht so gemeint.« Aber sie bekommt es nicht heraus. Ihre Lippen sind wie zugeklebt.

      »Weißt du was, Mama?«, sagt Lola und stößt einen Finger in die Luft. »Du bist das Letzte!« Mit fliegenden Haaren dreht sie sich um und rennt aus der Küche. Wenig später sieht Tina sie draußen über den Rasen laufen.

      »Wo willst du hin?«, ruft Jochen ihr hinterher, doch Lola reagiert nicht und verschwindet auf dem Schotterweg in Richtung Straße. Tinas Blick ist schon wieder nach innen gerichtet, auf den abgrundtiefen Graben, der zwischen ihr und ihrer Tochter gähnt wie ein gieriges Schwarzes Loch. Seit Lola ihre erste Periode bekommen hat und sich Schminke ins Gesicht schmiert, um den Jungen zu gefallen, ist dieser Graben nicht nur tiefer, sondern vor allem düsterer geworden. Tina macht sich nichts vor. Sie weiß, dass er von Anfang an dagewesen ist.

      Ihre Gedanken kehren in die Gegenwart zurück, und sie schaut aus dem Fenster hinüber zum Waldrand. Vielleicht sollte sie einfach alles stehen und liegen lassen und in den Wald gehen … nie wieder auftauchen.

      Wie betäubt beendet sie den Abwasch, trocknet ihre Hände ab und schleppt sich ins Wohnzimmer. Ronja kommt hereingeprescht, Jochen im Schlepptau.

      »Wo ist denn Lola hin?«, fragt er.

      »Keine Ahnung. Ich glaube, sie will allein sein.«

      Jochen gibt einen nachdenklichen, fast sehnsuchtsvollen Laut von sich. Sanft streicht er über Tinas Rücken. »Ich wäre auch mal wieder gerne allein mit dir«, flüstert er.

      Tina muss sich zwingen, nicht zu erschauern. Nicht aus Lust, sondern aus Verzweiflung. Warum nimmt Jochen diese Schwingungen nicht wahr? Warum merkt er nicht, wenn sie sich schlecht fühlt? Sie kennt die Antwort. Jochen weicht allem Negativen aus.

      Sie sieht zu Ronja hinüber, die sich vor dem Panoramafenster auf den Boden plumpsen lässt und das Märchenbuch mit den Trollbildern aufklappt.

      »Ich glaube«, sagt sie zu Jochen, »das können wir vorerst vergessen, ohne dass die Kinder es mitbekommen.«

      »Ach was. Lass uns in den Wald gehen. Da ist eh niemand. Wir haben die ganze Weite der schwedischen Wälder nur für uns. Das wär doch mal aufregend. Na?« Jochens Hand wandert zu ihrer Hüfte.

      Tina wendet sich ab. »Du bist nicht bei Trost.«

      »Schade«, seufzt Jochen.

      »Vielleicht später«, sagt sie, um ihn zu besänftigen. Es bereitet ihr Unbehagen, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. Normalerweise wagt sie das nicht, aber heute kann sie einfach nicht anders.

      »Okay, dann werde ich damit anfangen, die Wand aufzustemmen. Wir wollen schließlich eine offene Küche haben.«

      »Bist du dir sicher, dass die Wand nicht tragend ist?« Tina ist erleichtert, dass er eine Ablenkung gefunden hat.

      »Laut Bauplan, den der Makler uns gegeben hat, ist es eine nachträglich eingezogene Holzwand. Die kann ruhig weg.«

      »Das Haus ist über 100 Jahre alt, meinst du, die haben damals schon die Statik berechnet?«

      Jochen zuckt fröhlich mit den Schultern. »Wir werden es erfahren.«

      Tina beneidet ihn um seine Unbekümmertheit, trotzdem wirft sie einen skeptischen Blick auf die Holzwand.

      Jochen lacht. »Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Geh am besten mit Ronja auf die Terrasse. Hier wird’s gleich laut.«

      Tina nickt und schlägt ihrer Tochter vor, ihren Collegeblock mitzunehmen und vielleicht ein paar Farbstifte. Begeistert sammelt Ronja alles zusammen. Mit ihren unbeholfenen, polternden Schritten läuft sie nach draußen.

      Na schön, denkt Tina, vielleicht bekomme ich jetzt endlich ein bisschen Ruhe und kann das Buch lesen, das Jochen mir für den Urlaub geschenkt hat. Sie holt sich »Ein Mann namens Ove« vom Nachttisch und ein Glas Limonade aus der Küche. Außerdem ein Kissen und die Sonnenbrille.

      Auf der Terrasse stellt Tina das Glas auf den Tisch und sieht sich nach Ronja um. Ihre Malsachen und der Block liegen im Gras. Ronja aber ist weg.

      8

      »Das müsst ihr euch ansehen!«, ruft die Kollegin von der Spurensicherung. Sie steht neben der Mülltonne des Ferienhauses und hält etwas hoch, das aussieht wie ein zerknüllter und wieder glatt gestrichener Zettel.

      Mit gewichtigen Schritten stapft Göran zu ihr hinüber. Maja folgt ihm. Auch sie will wissen, was die Kollegin da gefunden hat.

      »Was ist das?« Göran betrachtet den Zettel. »Sieht aus wie ein Drohbrief.«

      »In der Tat. Mit ausgeschnittenen und aufgeklebten Buchstaben«, bestätigt die Kollegin.

      »Leave this place or I kill you«, liest Göran vor. »War sonst noch etwas im Müll? Ein Umschlag, der dazu passt?«

      »Nein, der Rest ist nur üblicher Hausmüll. Drinnen in der Küche dasselbe.«

      »Hm, von wem stammt der Brief wohl?«, überlegt Göran laut.

      »Vielleicht von einem der Dorfbewohner?«, schlägt Maja vor und macht ein Foto. »Könnte ja sein, dass einer was dagegen hatte, dass eine deutsche Familie hier einzieht.«

      »Meinst du?« Ihr Chef verzieht skeptisch das Gesicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei dieser Bruchbude einen Interessenskonflikt gegeben hat. Wenn einer aus dem Dorf das Ding hätte haben wollen, dann hätte er es doch gekauft, oder?«

      Maja verkneift sich einen Kommentar. Ist ihr Chef tatsächlich so schwer von Begriff? Dass das Ganze einen fremdenfeindlichen Hintergrund haben könnte, kommt ihm wohl nicht in den Sinn.

      »Jedenfalls sollten wir dem nachgehen und den Brief auf Fingerabdrücke und andere Spuren untersuchen.« Göran gibt der Frau von der KTU zu verstehen, dass sie den Zettel in eine Beweismitteltüte verfrachten soll. Danach wendet er sich an Maja. »Und du fährst ins Dorf und beginnst mit der Befragung. Vielleicht hat jemand etwas gesehen.«

      »Klar.«