»Down-Syndrom«, antwortet Frau Prenzel. »Ronja ist ein merkwürdiges Kind. Sie lebt in ihrer Fantasiewelt und ist recht dickköpfig. Die Nowaks haben’s nicht leicht mit ihr. Haben es vor der Geburt nicht gewusst. Sonst hätten sie sie bestimmt nicht … Na, Sie wissen, was ich meine.«
Skagen hebt weder missbilligend eine Braue noch nickt er. Das Urteil von Frau Prenzel über Ronja hingegen scheint festzustehen. »Und wohin in Schweden sind die Nowaks gefahren?«, fragt er. »Haben sie eine Ferienhütte gemietet oder campen sie?«
»Sie sind in ihr Haus gefahren. Das haben sie Anfang des Jahres gekauft. Das war immer Jochens großer Traum. Ein eigenes Häuschen in Schweden.«
»Wissen Sie, wo das liegt?«
»Irgendwo in Südschweden. Der Ort heißt Holmsjö oder Hultsjö oder so ähnlich. Die genaue Adresse kenne ich leider nicht.«
»Nicht schlimm. Das hilft mir auch so weiter. Wissen Sie zufällig, wie das Haus aussieht?«
»Oh, es ist wirklich bezaubernd. Jenny hat mir ein Foto gezeigt, das Lola ihr über WhatsApp geschickt hat.«
»Aha. Könnte ich mal einen Blick darauf werfen?«
»Warum nicht.« Sie dreht sich um und ruft über die Schulter in die Wohnung. Ein Murren ertönt, und kurz darauf schleicht ein blasses dunkelblondes Mädchen in einem rosa Kapuzenpullover und einer viel zu weiten Jogginghose durch den Flur.
»Was is’ denn, Mama?«, murmelt es verschnupft.
»Dieser Mann ist von der Polizei und würde gern das Foto von dem Schwedenhaus der Nowaks sehen.«
»Warum? Is’ was passiert?«
Um das Mädchen zu beruhigen, erklärt Skagen erneut und möglichst neutral, warum er hier ist.
»Ein Unfall?« Jenny wird noch blasser, als sie ohnehin schon ist, holt dann aber ihr Smartphone hervor. Es steckt in einer pinkfarbenen Hülle, dieselbe Farbe wie ihre Fingernägel. Sie hält ihm das Display hin, und Skagen betrachtet die Fotos von dem Haus. Es macht einen netten Eindruck, ein Klassiker in Schwedenrot mit weißen Rahmen, und scheint mitten im Wald zu stehen. Ein rostroter Fleck im satten Grün. Auf die Frage hin, ob Jenny ein Foto von Lola habe, nickt das Mädchen und zeigt Skagen mehrere Selfies. Darauf zwei typische Teenager mit rot geschminkten Lippen und Kussmund. Duckface. Im Hintergrund der Hamburger Hafen, blauer Himmel, Möwen. Fröhliche Gesichter an einem sonnigen Tag. Leider gehört eines dieser Gesichter jetzt einer Toten.
Skagen fragt nach etwaigen Textnachrichten, die Lola aus dem Urlaub geschickt hat, und Jenny ruft einen Chat bei WhatsApp auf. »Voll nice hier. Zumindest, wenn man eine Mücke ist. LOL Fucking boring, wish you where here, xoxo (…) Mum und Dad sind sooo lame! (…) Ronja nervt. Wish they were dead! Sheesh, meine Mum bitcht mal wieder total rum.« Der übliche Teeniekram.
Oder doch nicht? »Wish they were dead!«
Mit der Erlaubnis der Mutter fotografiert Skagen die Bilder und einen Teil des Chats ab und gibt Jenny das Handy zurück.
»Weißt du, ob Lola vielleicht irgendwelche Probleme hat? Mit ihren Eltern oder ihrem Freund?«
Jenny schüttelt den Kopf. »Lola hat keinen Freund.«
»Und mit ihren Eltern?«
An dieser Stelle wirkt das Mädchen mit einem Mal verschlossen. Skagen kann sehen, wie sie die Schotten dicht macht. Es ist offensichtlich, dass da etwas ist.
»Noch mal: Hat Lola Probleme mit ihren Eltern?«, wiederholt er nachdrücklicher.
Jenny beißt sich auf die Lippe. Skagen versteht. Sie will nicht vor ihrer Mutter darüber sprechen. Mädchengeheimnisse. Es hat wenig Sinn, jetzt weiter danach zu bohren. Das kann er später tun. Fürs Erste genügen ihm die Informationen. Er bedankt sich, überreicht Mutter und Tochter jeweils eine seiner Visitenkarten und verlässt das Haus.
Draußen ist es heiß wie am Fuße der Pyramiden von Gizeh. Jeder Atemzug fühlt sich an, als atme man in einen Föhn. Skagen setzt sich ins Auto, das einem Backofen gleicht, und dreht den Zündschlüssel. Erleichtert hält er sein Gesicht in den kalten Strom aus der Lüftung, während er im Internet nach der Adresse von Klaus und Ellen Nowak sucht. Bargstedt liegt circa 30 Kilometer westlich der Hansestadt mitten im Niemandsland zwischen Hamburg und Bremerhaven.
Bei dem Gedanken an das, was ihm bevorsteht, schnürt es ihm die Brust zusammen. Todesbotschaften zu überbringen sind mit das Unangenehmste, was seine Arbeit als Polizist bereithält. Um damit besser umgehen zu können, hat er Seminare besucht, in denen er für solche Situationen geschult wurde. Doch das bereitet einen nur auf einen Bruchteil an Reaktionen vor, die Betroffene zeigen können. Meist sind diese sowieso vollkommen anders, als man sie sich vorher ausgemalt hat. Erst recht, wenn es um den verschärfenden Faktor Kinder geht. Er würde auf jeden Fall einen Polizeiseelsorger mit hinzuziehen. Mit Verstärkung an der Seite käme er sich nicht ganz so furchtbar vor, während für die Angehörigen eine Welt zusammenbricht. Doch vorher muss er Göran Berg anrufen und ihm mitteilen, dass er den ungefähren Standort von Nowaks Ferienhaus ermittelt hat. Skagen wählt die Nummer des schwedischen Polizisten und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
»Polizeiinspektor Göran Berg!«
»Hej hej, Tom Skagen von Skanpol hier.«
»Ach, Sie.« Mehr sagt er nicht.
»Ich habe ein Foto von dem Haus, das den Nowaks gehört«, erklärt Skagen. »Es steht in Hultsjö. Also nicht weit weg von der Unfallst…«
»Wissen wir schon.«
»Wissen Sie schon?«
»Hultsjö ist klein.«
»Ja, und?« Skagen spürt, dass die Konversation mit Berg ihm mehr Geduld abverlangt, als er im Moment aufbringen kann.
»Wir haben im Supermarkt in Hultsjö nachgefragt. Die kannten die Familie. Herr Nowak hat sich dort nach einem Tischler erkundigt. Sie wollten das Haus renovieren. Wir sind gerade vor Ort und durchsuchen das Gebäude.«
»Okay, und wissen Sie …?«
»Nein, wir wissen noch nicht, wo sich Frau Nowak aufhält. Wir …«
»Sie heißt Tina«, unterbricht diesmal Skagen. »Christina Nowak. Und ihre Nachbarn in Hamburg sagen, dass sie mit nach Schweden gefahren ist.«
Durch das Telefon hört er im Hintergrund eine Frauenstimme. Berg scheint sich einen Moment auf sie zu konzentrieren, dann wendet er sich wieder an ihn: »Wir haben etwas gefunden. Ich muss auflegen.«
»Warten Sie. Ich … Polizeiinspektor Berg?«
Die Verbindung ist unterbrochen.
Irritiert starrt Skagen auf das Telefon.
5
Maja sieht, wie Göran das Gespräch mit dem deutschen Polizisten beendet und das Handy in die Tasche seiner Uniform steckt.
»Was hast du da?«, fragt er.
»Scheint ein Tagebuch zu sein, allerdings in Bildern.« Maja hält ihm einen DIN-A4-Collegeblock entgegen. Vorn auf dem Einband prangt in unbeholfener Schrift »Ronja, das Trollkind«. Er blättert die Seiten auf, die voll krakeliger Filzstiftzeichnungen sind.
»Was heißt ›Trollkind‹?«, fragt Göran. »Ich kann kein Deutsch.«
»Trollbarn, glaube ich. Sieh mal, da hat das Mädchen einen großen dicken Troll gemalt. Und das soll bestimmt das Haus darstellen, in dem wir gerade sind. Es ist umringt von Trollen. Ob das etwas bedeutet?«
»Kann sein. Vielleicht ist es bloß Fantasie. Wir nehmen das Ding mit. Jemand, der Ahnung davon hat, soll es sich ansehen.« Er gibt Maja den