Weiter vorne sah Cassie die wartenden Scheinwerfer. Ein weißer Van parkte auf der anderen Straßenseite und Vadim schien direkt darauf zuzusteuern.
Er streckte seine Hand aus und innerhalb eines Sekundenbruchteils realisierte Cassie erschrocken, dass er ihr Zögern bemerkt hatte und nun nach ihrem Arm greifen wollte.
KAPITEL DREI
Zu spät wurde Cassie klar, dass sie zu naiv, zu gesprächig und zu gutgläubig gewesen war. In ihrem Bedürfnis nach Gesellschaft hatte sie mit einem Fremden geteilt, dass sie ganz alleine auf dieser Welt war und niemand ihren Aufenthaltsort kannte.
Horrorszenarien spielten sich nun in ihrem Kopf ab – Kidnapping, Menschenhandel und Missbrauch. Sie musste entkommen.
Als Vadims Hand ihrem Handgelenk näherkam, sprang sie abrupt zurück und er erwischte stattdessen nur ihren Jackenärmel.
Der ausgetragene, dünne Stoff riss und er hielt lediglich ein Stück Polyester in den Händen. Dann war sie frei.
Cassie drehte sich um und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Mit gesenktem Kopf floh sie durch den Regen und über die Straße, während die Ampel bereits auf Rot schaltete. Hinter ihr fluchte Vadim und sie wusste, dass der große Schirm ihn nun mehr behinderte als ihm nützte. Sie bog links in eine Seitengasse ein, während hinter ihr ein Bus vorbeifuhr und sie hoffte, dass Vadim ihren Richtungswechsel nicht gesehen hatte. Aber ein Rufen hinter ihr belehrte sie eines Besseren – er war ihr noch immer auf den Fersen.
Sie bog rechts auf eine geschäftigere Straße ab und während sie sich an langsamer gehenden Fußgängern vorbeischlängelte, zog sie sich sowohl Jacke als auch Mütze aus, um mit deren grellen Farben nicht aufzufallen. Sie knüllte die Jacke unter ihrem Arm zusammen und als sie die nächste Kreuzung erreichte und dort links abbog, warf sie einen schnellen Blick nach hinten.
Niemand schien ihr zu folgen, aber er konnte sie noch immer einholen – oder, noch schlimmer, sie an ihrem Ziel erwarten.
Vor ihr sah sie ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Sicherheit: das ‚Pensione‘-Schild, an dem sie zuvor vorbeigegangen waren. Vadim war nirgends zu sehen.
Cassie sprintete darauf zu und betete, rechtzeitig aus der Gefahrenzone hinaus und ins Innere zu gelangen.
Die Musik des Gästehauses war auch von der Straße aus hörbar. Das wackelige, weiß gestrichene Tor stand nur angelehnt.
Cassie drückte es auf und stampfte die schmale Holztreppe hinauf. Stimmen, Gelächter und Zigarettenrauch hießen sie willkommen.
Sie warf einen Blick nach hinten, doch der Treppenaufgang war leer.
Vielleicht hatte er die Jagd nach ihr aufgegeben. Jetzt, nachdem ihr die Flucht gelungen war, fragte sie sich, ob sie die Bedrohung aufgebauscht hatte. Der geparkte Van war möglicherweise nur ein Zufall gewesen. Vielleicht hatte Vadim sie lediglich mit zu sich nach Hause nehmen wollen.
Doch wie dem auch sei – er hatte sein Versprechen nicht gehalten und sogar versucht, sie zu packen, als sie gezögert hatte. Wieder überkam sie die Angst, als sie sich daran erinnerte, wie knapp sie ihm entkommen war.
Es war so idiotisch gewesen, hinauszuposaunen, dass sie alleine war, niemand wusste, wo sie sich aufhielt und sie sich auf einer hoffnungslosen Suche nach einer möglicherweise für immer verschwundenen Person befand. Schwer atmend schalt sich Cassie für ihre entsetzliche Dummheit. Es war so erleichternd gewesen, Jacquis Geschichte mit einem Fremden zu teilen, der sie nicht verurteilte. Dabei hatte sie nicht realisiert, auch andere Informationen preisgegeben zu haben.
Das Sicherheitstor am Ende der Treppenstufen war geschlossen. Es führte in ein kleines Foyer, das nicht besetzt war, doch unter einem Knopf an der Wand hing ein Schild.
Die Worte waren auf mehrere Sprachen übersetzt worden und Englisch stand ganz oben.
„Bitte klingeln.“
Cassie klingelte und hoffte, gehört zu werden, wo die Musik doch laut durch das Haus schallte.
Hoffentlich hört mich jemand, betete sie.
Dann öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Foyers und eine rotblonde Frau in Cassies Alter betrat den Raum. Sie wirkte überrascht, Cassie dort stehen zu sehen.
„Buono sera“, begrüßte sie sie.
„Sprichst du Englisch?“, fragte Cassie und hoffte, dass die Frau zweisprachig war und verstand, dass sie schnell hereingelassen werden musste.
Zu Cassies Erleichterung antwortete sie auf Englisch. Sie schien einen deutschen Akzent zu haben.
„Wie kann ich dir helfen?“
„Ich brauche dringend eine Unterkunft. Habt ihr freie Zimmer?“
Die rotblonde Frau dachte kurz nach.
„Keine Zimmer“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Cassie war am Boden zerstört. Sie blickte über die Schulter nach hinten und fürchtete, Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Aber es musste das Dröhnen der Musik im Gästehaus gewesen sein.
„Kann ich wenigstens reinkommen?“, fragte sie.
„Natürlich. Ist alles in Ordnung?“
Die Frau betätigte den Tür-Buzzer. Cassie fühlte die Vibration des kalten Metalls in ihren Händen, als das Schloss aufsprang. Energisch drückte sie die Tür hinter sich zu.
Endlich war sie sicher.
„Ich habe draußen eine schlechte Erfahrung gemacht. Ein Mann wollte mich herbegleiten, hat aber dann eine andere Richtung eingeschlagen. Als ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt, hat er mich am Arm gepackt, doch ich habe es geschafft, mich zu befreien.“
Die Frau runzelte die Stirn und sah erschrocken aus.
„Ich bin froh, dass du dich befreien konntest. Dieser Teil Mailands kann nachts gefährlich sein. Bitte, komm mit ins Büro. Ich glaube, deine Frage missverstanden zu haben. Wir haben keine freien Zimmer; alle Einzelzimmer sind belegt. Aber wir haben ein Bett in einem der Gemeinschaftsräume, wenn das für dich in Ordnung ist.“
„Vielen Dank, das ist es.“
Erleichtert, nicht erneut die dunklen Straßen Mailands betreten zu müssen, folgte Cassie der Frau durch das kleine Foyer in ein winziges Büro. An der Tür hing ein Schild: ‚Hostel Manager‘.
Dort bezahlte Cassie für die Unterkunft. Wieder wurde ihr klar, wie hoch die Preise waren. Mailand war ein teures Pflaster und es schien keine Möglichkeit zu geben, günstig zu leben.
„Hast du Gepäck?“, fragte sie.
Cassie schüttelte den Kopf. „Das ist im Auto, mehrere Kilometer von hier entfernt.“
„Dann möchtest du bestimmt das Notfallset kaufen.“
Zahnbürste, Zahnpaste, Seife und Baumwollshirt waren wahre Lebensretter und Cassie gab der Frau dafür noch mehr Euros aus ihrem Portemonnaie.
„Das Zimmer befindet sich am Ende des Korridors und dein Bett ist das neben der Tür. Außerdem gehört dir ein Schließfach.“
„Danke.“
„Die Bar ist dort drüben. Wir bieten unseren Gästen das billigste Bier Mailands.“ Sie lächelte, als sie den Schließfachschlüssel auf den Tresen legte.
„Mein Name ist Gretchen“, fügte sie hinzu.
„Ich bin Cassie.“
Sie erinnerte sich an den Grund ihres Besuchs. „Was ist mit einem Telefon? Oder Internet?“
Sie hielt den Atem an, während Gretchen nachdachte.
„Gäste dürfen das Hostel-Telefon nur in Notfällen benutzen“, sagte sie. „Aber es gibt mehrere Einrichtungen in der Nähe, wo man telefonieren oder einen Computer verwenden kann. Die Adressen stehen an der Pinnwand neben dem Bücherregal, dort befindet sich auch eine Karte.“
„Danke.“
Cassie