„Bist du Americana?“, fragte der Mann neben ihr.
Beeindruckt nickte Cassie.
„Ja, das bin ich.“
„Mein Name ist Vadim“, stellte er sich vor.
Er hörte sich nicht italienisch an, aber ihr Ohr für Akzente war bei weitem nicht so gut wie seins. Sie vermutete, dass er irgendwo aus Osteuropa oder sogar Russland stammen könnte.
„Ich bin Cassie Vale“, antwortete sie.
Er schien einige Jahre älter zu sein als sie, also Ende zwanzig, und trug Lederjacke und Jeans. Vor ihm stand ein halbvolles Glas Rotwein.
„Machst du Urlaub hier? Arbeit oder Universität?“, fragte er.
„Ich bin tatsächlich hier, um jemanden zu finden.“
Dieses Geständnis schmerzte, jetzt wo Cassie fürchtete, genau das niemals erledigen zu können.
Er zog seine dicken Augenbrauen hoch.
„Was meinst du mit finden? Jemand bestimmtes?“
„Ja. Meine Schwester.“
„Ist sie verschwunden?“, fragte er.
„Das ist sie. Ich bin einer Spur nachgegangen, in die ich viel Hoffnung investiert hatte. Vor einiger Zeit hat sie eine Freundin in den Vereinigten Staaten angerufen und wir haben die Nummer verfolgt.“
„Du hast also den Anruf zurückverfolgt und bist hier gelandet? Das ist gute Detektivsarbeit“, sagte Vadim bewundernd, während der Kellner ihren Kaffee über den Tresen schob.
„Nein, ich war zu langsam. Weißt du, sie hat mich zwei Mal angerufen. Die erste Nummer hat überhaupt nicht funktioniert. Und erst letzte Woche ist mir eingefallen, dass der zweite Anruf möglicherweise von einer anderen Nummer aus gemacht worden war.“
Vadim nickte mitfühlend.
„Und jetzt ist die Cartolería geschlossen“, erklärte Cassie weiter.
„Das Geschäft nebenan?“
„Ja. Von dort aus hat sie mich angerufen. Ich hoffe, herauszufinden, wem der Laden gehört hat.“
Er runzelte die Stirn.
„Ich weiß, dass die Cartolería zu einer Ladenkette gehört. Es gibt noch andere in Mailand. Es ist ein Internet-Café, das auch Stifte, Kugelschreiber und solche Dinge verkauft.“
„Schreibwaren“, schlug Cassie vor.
„Ja, genau. Vielleicht kannst du einen anderen Laden der Kette anrufen, um den Manager dieser Filiale ausfindig zu machen.“
Der Kellner kehrte zurück und stellte einen Teller vor ihr ab. Cassie machte sich hungrig darüber her.
„Bist du alleine unterwegs?“, fragte Vadim.
„Ja, ich bin alleine hergekommen, um Jacqui zu finden.“
„Warum suchst du nach ihr und sie nicht nach dir?“
„Wir hatten eine schwere Kindheit“, erklärte sie. „Meine Mutter starb, als wir noch klein waren und mein Vater kam ohne sie nicht klar. Er wurde sehr wütend und schien unserer aller Leben zerstören zu wollen.“
Vadim nickte.
„Jacqui war älter als ich und ist eines Tages einfach gegangen. Ich glaube, sie kam nicht mehr damit klar. Mit seiner Wut, seinem Schreien, den Glasscherben auf dem Boden. Er hatte viele verschiedene Freundinnen und oft waren Fremde in unserem Zuhause.“
Eine dunkle Erinnerung drückte sich an die Oberfläche – ihr Versteck unter dem Bett, die schweren Schritte auf der Treppe, das Öffnen ihrer Türe. Jacqui hatte sie gerettet. Sie hatte so laut geschrien, dass die Nachbarn angerannt gekommen waren und der Mann sich aus dem Staub gemacht hatte. Cassie erinnerte sich an die Angst, die sie verspürt hatte, als er an ihrer Schlafzimmertür gerüttelt hatte. Jacqui war ihre Beschützerin gewesen, bis sie weggerannt war.
„Als Jacqui weg war, bin ich ausgezogen. Mein Dad wurde zwangsgeräumt und musste eine neue Unterkunft finden. Ich habe ein neues Handy, er hat ein neues Handy. Sie kann uns unmöglich kontaktieren. Aber ich glaube, dass sie es versucht. Doch sie scheint Angst zu haben und ich weiß nicht, warum. Vielleicht denkt sie, dass ich wütend bin, weil sie mich alleine gelassen hat.“
Vadim schüttelte den Kopf.
„Du bist also ganz allein auf dieser Welt?“
Cassie nickte und fühlte sich unglaublich traurig.
„Kann ich dir einen Wein spendieren?“
Cassie schüttelte den Kopf.
„Vielen Dank, aber ich muss fahren.“
Ihr Wagen war fünfundvierzig Gehminuten von hier entfernt. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie hinsollte, da sie keine Unterkunft gebucht hatte. Sie hatte gehofft, früher anzukommen, in dem Geschäft einen Hinweis auf Jacquis Aufenthaltsort zu finden und von dort ihre Suche weiterzuführen. Doch jetzt war es dunkel und sie hatte keine Ahnung, wo sich die bezahlbaren Inns und Hostels der Stadt befanden. Vermutlich würde sie im Parkhaus in ihrem Wagen schlafen müssen.
„Hast du eine Unterkunft für heute Abend?“, fragte Vadim, als könne er Gedanken lesen.
Cassie schüttelte den Kopf.
„Das muss ich noch klären.“
„Ganz in der Nähe befindet sich eine Backpackers Lodge. Eine pensione, wie sie es hier in Italien nennen. Das könnte genau das Richtige für dich sein. Ich komme auf meinem Nachhauseweg daran vorbei und kann dich hinbringen.“
Cassie lächelte zögernd. Sie machte sich Sorgen um den Preis und die Tatsache, dass sich ihr Gepäck noch immer im Wagen befand. Trotzdem klang eine Unterkunft in der Nähe besser als der lange Rückweg zum Parkhaus. Es bestand sogar die Chance, dass Jacqui auch dort untergekommen war; sie sollte sich die Lodge also zumindest ansehen.
Sie trank ihren Kaffee und aß die letzten Krümel ihres Paninis, während Vadim sein Weinglas leerte und einige Nachrichten auf seinem Handy tippte.
„Komm mit mir. Hier entlang.“
Draußen regnete es noch immer, doch Vadim öffnete einen großen Schirm. Cassie lief dicht neben ihm und war dankbar für den Schutz vor dem Regen. Er machte große und eilige Schritte und sie musste sich bemühen, Schritt zu halten. Sie war froh, dass er nicht trödelte, aber gleichzeitig fragte sich, ob das Gästehaus für ihn einen Umweg darstellte.
Sie erhaschte kurze Blicke auf die Gebäude, die sie passierten und versuchte, herauszufinden, wo sie waren. Namen von Restaurants, Läden und Geschäften blinkten und leuchteten im Regen und die unbekannte Sprache überforderte Cassie.
Sie überquerten eine Straße und sie bemerkte, dass der Verkehr ruhiger geworden war. Obwohl sie schon länger nicht mehr auf die Uhr gesehen hatte, glaubte sie, dass es bereits weit nach neunzehn Uhr war. Sie fühlte sich erschöpft und fragte sich, wie weit entfernt die Backpackers Lodge war und was sie tun würde, wenn kein Bett mehr frei war.
Zu ihrer Rechten befand sich ein Supermarkt, dessen war sie sich sicher. Links war eine Art Unterhaltungsestablishment angesiedelt. Das Schild blinkte in Neonfarben. Es war kein Rotlichtbezirk, wenn es so etwas in Mailand überhaupt gab, aber es war auch nicht zu weit davon entfernt.
Plötzlich wurde klar, dass sie zu schnell und zu weit gegangen waren und zwar ohne ein Wort zu sprechen.
Sie hatten fast eineinhalb Kilometer zurückgelegt und kein vernünftiger Mensch würde das als ‚in der Nähe‘ bezeichnen.
Dann holte ihre Erinnerung auf.
Nach den ersten Kreuzungen hatte sie einen Blick nach links geworfen. Abgelenkt und mit Regentropfen in den Augen hatte sie das Schild nicht wahrgenommen – ein bescheidenes Schild mit schwarzen Buchstaben statt den blinkenden Tafeln, die sie jetzt umringten.
„Pensione.“
Das