Taiga. Sergej Maximow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963114489
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plötzlich, sich den Bauch haltend, auf den Boden. Ich lief zu ihm, um ihm aufzuhelfen.

      »Nicht!«, stöhnte er. »Das tut weh!«

      Ein Feldscher kam, untersuchte den Professor und meinte gleichgültig zu den Sanitätern:

      »Ein Bruch. Bringt ihn zum Lager.«

      Die Menschen aber keuchten hintereinander die schmalen Steige hinauf, rollten hinab, stiegen wieder hinauf, griffen wieder zu Schaufel und Karre.

      Dann kam Genosse Moros. Dick, mit einer guten Papirossa im Mund, ging er von Grube zu Grube, stieß die Spitze seines glänzenden Chromlederstiefels gegen das Erdreich und sagte zu den Häftlingen:

      »Nun, wie ist der Boden?«

      oder:

      »Ziemlich klein, deine Karre, Freundchen.«

      oder:

      »Denkt dran, nur durch ehrliche, selbstlose Arbeit könnt ihr euch von den Schandflecken des Verbrechens reinwaschen.«

      In solchen Momenten ähnelte er Grischka Filon in erstaunlicher Weise; sogar sein Mund schien sich, wie bei Grischka, mit Speichel zu füllen.

      Nach der kurzen Mittagspause weigerten sich an die hundert Mann aufzustehen. Die Wachsoldaten schrien umher, schossen in die Luft, aber vergeblich. Sie zwangen eine Gruppe von etwa zwanzig Mann irgendwie auf die Beine und trieben sie zum Karzer des Außen­lagers. Ich konnte sehen, wie sie, den Blicken der Obrigkeit kaum entschwunden, ihren Fäusten und Gewehrkolben freien Lauf ließen.

      »Mein süßes Mägdelein,

      das ist so hübsch und fein …«

      Som kam für einen Augenblick aus der Höhle, zwinkerte mir zu, zeigte auf die Menschen, die da verprügelt wurden, und meinte fröhlich:

      »Umerziehung!«

      Die Aufschüttung wuchs sichtlich an. Das Orchester spielte ohne Unterbrechung. Mit eingefallenen Augen blickten die Häftlinge wütend zu den Musikern und schimpften:

      »Hoffentlich hören die Hunde bald auf zu spielen! Ist doch auch so schon kaum zu ertragen!«

      Mit schrecklichem Getöse stürzte die Höhle ein und begrub acht Mann, darunter auch Som. Ich schaffte es gerade noch, einem riesigen Erdklumpen zu entkommen, der auf mich zurollte.

      »Mein süßes Mägdelein,

      das ist so hübsch und fein …«

      Genosse Moros gestattete, eine halbe Brigade für die Bergung der Leichen abzustellen.

      Von der Brücke aber schrie in roten Lettern laut das Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

      Der Zug überquerte die Brücke erst am Abend.

      ***

      Drei Tage wälzte ich mich krank auf meiner Pritsche.

      Grischka Filon kam und brachte mir einen Brief von meinem Vater aus Moskau. Er drehte den Umschlag lange in den Händen, zog den Brief dann heraus, gab ihn mir und steckte den Umschlag in seine Jackentasche.

      »Gib mir den Umschlag auch«, bat ich.

      »Geht nicht. Irgendwie suspekt, muss ich prüfen …« Er ging weg.

      Bald darauf wurde Grischka Filon aufgrund »vorbildlicher Arbeit« vorzeitig entlassen. Er war, glaube ich, der Einzige, der für den Bau der Lun-Wosch-Brücke eine solche Auszeichnung erhielt.

      Ein halbes Jahr später. Der Skorbut hatte mir die Beine gekrümmt, ich kam knapp aus der Baracke hinaus. Schon lange hatte ich keine Nachricht von Zuhause mehr erhalten, und als mir der neue Erzieher – Woizechowski, vordem ein großer Hochstapler – einen zweiten Brief aushändigte, weinte ich fast vor Freude. In dem Brief schrieb mein Vater unter anderem:

      »Gestern war ein Freudentag: Wir hatten Besuch von Deinem früheren Erzieher Semjon Michailowitsch Ogurzow. Wir haben Tee getrunken, und er hat uns viel von Dir erzählt. Dann sagte er, dass er morgen wieder ins Lager fährt, als Vertragsbeschäftigter. Wir baten ihn, ob er nicht so liebenswürdig sein und etwas für Dich mitnehmen könne. Er war gern bereit und meinte, dass Du etwas Anständiges zum Anziehen brauchst. (Warum hast Du uns das nicht geschrieben?) Wir haben ihm zwei große Koffer für Dich mitgegeben, mit Kleidung und Lebensmitteln. Hast Du sie erhalten?«

      Ich begriff sofort, wozu Grischka Filon den Briefumschlag an sich genommen hatte.

      Die Koffer hatte ich natürlich nicht bekommen, und würde sie auch nie erhalten. Es ging auch gar nicht um die Koffer. Schließlich war Semjon Michailowitsch Ogurzow einmal der Erzieher Grischka Filon gewesen und wusste ganz genau, was Häftlinge eines sowjetischen Konzentrationslagers brauchen. Vor allem brauchen sie Umerziehung – alles andere ist zweitrangig.

      Dafür war Grischka Filon auch Erzieher, um das zu wissen!

       AUF TRANSPORT

      Der tiefe Frachtraum eines Lastschiffs. Man hört das Plätschern der Wellen gegen die Bordwand. Im Frachtraum befinden sich dreitausend Menschen. Hier und da brennt eine Petroleumlampe der Marke »Fledermaus« und wirft ihr schwaches Licht auf die kreuz und quer liegenden schlafenden Häftlinge. Es ist stickig, dämmerig, der Gestank nimmt einem die Luft. Neben mir sitzt Vater Sergij auf einer ausgebreiteten Joppe und murmelt halblaut vor sich hin. Er murmelt schon lange, leise und ruhig, in der immer selben Stimmlage. Wir befinden uns auf einem Gefangenentransport per Schiff nach Ust-Vym.

      Im Bereich nebenan, hinter den Balken, die das Deck stützen, spielen die Kriminellen Karten. Sie ereifern sich, schreien und fluchen unflätig. Einen von ihnen kann ich sehr gut sehen. Er sitzt, mit dem Gesicht zu mir, mit bloßem Oberkörper da, beugt sich über die Kiste, die als Tisch dient und auf der eine Kerze flackernd ihr schwaches Licht verbreitet. Auf dem linken Auge ist er blind, das Gesicht ist voller großer Pickel. Offenbar hat er kein Glück im Spiel, er regt sich auf und schiebt die schmierigen Karten nervös hin und her.

      »Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

      »Schuss!«, ruft sein Spielpartner, der mit dem Rücken zu mir sitzt, leise. Ich kann nur seine breiten Schultern und sein krauses Haar sehen.

      Der Einäugige springt auf und zieht hastig, unter dem brüllenden Gelächter der beim Spiel zuschauenden Kriminellen, seine Hose aus.

      »Zwanzig Rubel! Okay?«, fragt der Einäugige seinen Mitspieler und reicht ihm die Hose.

      »Okay.«

      »He, Senjka, gib auf!«, empfiehlt ein älterer Gauner dem Einauge. »Du verlierst sowieso!«

      Aber der einäugige Senjka hört nicht auf ihn. Er zieht seine rutschende Unterhose hoch, setzt sich wieder, und das Spiel geht weiter. Aber nicht lange. Fünf, sechs Minuten später erneut brüllendes Gelächter – die Hose scheint verloren.

      »Die kriegt Senjka nicht wieder«, meint einer fröhlich.

      »Wart’s ab«, kontert der einäugige Ganove mürrisch und blickt sich nach allen Seiten um.

      »Ich setze ein neues Tschackett.«

      »Zeig her!«

      »Na das da!«, erwidert Senjka und weist mit der Hand in den Bereich gegenüber.

      Ich recke mich und blicke in die Richtung, in die Senjkas Hand weist, kann aber kein Jackett sehen. In dem Abschnitt liegen dicht an dicht schlafende Häftlinge; es ist dunkel dort, nur neben einem der Balken brennt ein Kerzenstummel; dort sitzt ein alter Mann mit weißem Bart und trinkt heißes Wasser aus einer Blechtasse. Das Gesicht des Alten kommt mir erstaunlich bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, wo ich ihm begegnet sein könnte.

      »Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

      »Los, Senjka, her mit dem Jackett!«

      »Gleich gibt’s was zum Lachen!«