»Ja … Er liegt auch da.«
Jemand kam aus einer der Baracken, schlug die Tür hinter sich zu und ging laut fluchend weg. Meine Besucher duckten sich.
»Der Kommandant, der Lump, schnüffelt überall rum. Kaum zu glauben, sogar in Baracke drei.«
In dem Lichtstreifen zwischen den Baracken war die schwarze Silhouette eines Menschen vage zu erkennen. Als sie hinter der Ecke verschwunden war, erhob sich Petjka Krasjuk, schob seine Mütze nach hinten, kam ganz nahe an mich heran und flüsterte:
»Hör mal, du, äh, wie heißt du noch mal, jetzt bist du doch hier, für Potapytsch? Als Wächter?«
»Genau, als Wächter.«
»Dann hilf du uns … Die Sache ist die … Die Kommandanten fischen, nirgendwo kann man mal mit nem Weib hin … verstehst du … das ist so … in’n Karzer wegen so ’ner Gans hab ich keinen Bock … Und in der Baracke erwischen sie einen hundertpro. Also, du, äh, lass uns hier rein zu dir, verstehst du … Mit Potapytsch lief das wie geschmiert, und der hatte da auch sein Gutes von … Marussja, gib mal her.« Er nahm das Päckchen und schob es mir in die Hand. »Hier hast du ein Schwarzbrot, zwei Kilo … ja was glotzt du so? Verlier bloß nicht die Fassung …!«
Ich hatte begriffen, was sie von mir wollten, und konnte vor Verblüffung kein Wort herausbringen.
»Alles klar?«, fragte Petjka Krasjuk. »Abgemacht? Komm, Marussja.«
»Halt, stopp«, hielt ich sie zurück, »das kann ich nicht … gestatten.«
Drohend kam er mir näher und zückte das Messer, das er in der Tasche trug. Die Klinge blitzte schwach auf.
»Du willst nicht? Sei kein Dummkopf. Hier werde ich mich mit dir vielleicht nicht anlegen, aber morgen in der Baracke stech ich dich ab wie das letzte Stück Vieh. Klaro? Komm, Marussja!«
Leichtfüßig liefen sie die Lehmstufen hinab, öffneten die Tür und verschwanden im Leichenhaus.
Verwirrt stand ich da und hielt das Schwarzbrot; es brannte mir in der Hand.
Aus dem Leichenhaus erklangen das Kichern der Frau und Petjkas unterdrücktes Flüstern:
»Warte, ich zieh ihn an den Beinen weg, dann ist mehr Platz; hat sich breit gemacht, was!«
Ich setzte mich auf meinen Reisighaufen und schleuderte zum ersten Mal im Leben ein Brot auf die Erde.
Der Mond tauchte auf und erfüllte die Taiga mit schwachem, milchig-blauem Licht. Die Birken begannen wieder zu leuchten, als sei ein weiterer Toter hinzugekommen. Durchdringend wie ein Klageweib rief die Eule. Ein leichter Wind raschelte über das trockene Gras hinweg und trug die braunen Blätter mit sich; die hundertjährigen Fichten schwangen ihre zotteligen Zweige wie schwere Weihrauchwedel.
Die Geheimnisse von Leben und Tod verbanden sich zu einem dämonischen, disharmonischen Akkord.
ODYSSEE EINES ARRESTANTEN
Ich liege im Lazarett des Außenlagers Rom-Ju. Vor einer Stunde hat mir ein kleiner, fröhlicher Feldscher freimütig erklärt, dass meine Tage wohl gezählt seien und ich es nicht mehr lange machen würde. Ich merke auch selbst, dass es schlecht um mich steht. Außenlager 3 hat mir den Rest gegeben.
Die kleine Nachtlampe brennt und beleuchtet die hölzernen Pritschen mit ihrem trüben Licht.
Es ist ein Uhr nachts. Hinter der Zeltwand rauscht leise die Taiga und singt uns allen die Totenmesse.
Vielleicht bringen sie mich morgen schon auf den Friedhof von Rom-Ju. Mein kurzes Leben – unsinnig und unnütz. Sterben mit zweiundzwanzig!
Mit schrecklicher Klarheit denke ich an den Beginn meiner Häftlingskarriere zurück.
Ljubjanka 2
Mein Herz schlug heftig, als ich in Begleitung zweier NKWD-Leute vor dem Eingang der Ljubjanka 2 aus dem Auto stieg. Gleich würde ich an zwei statuengleichen Wachposten vorbei durch die Tür gehen, in jenes berüchtigte Gebäude, über das in jeder Moskauer Familie im Flüsterton alles Mögliche erzählt wurde.
Es war April, ein klarer, warmer Aprilmorgen. Langsam begann es hell zu werden. Die Durchsuchung hatte die ganze Nacht gedauert, und die Gesichter der beiden Beamten erschienen morgendlich unangenehm-bleich. Hier und da waren die ersten Passanten zu sehen. Zwei von ihnen, die gerade am Eingang vorbeigegangen waren, blieben für einen kurzen Moment stehen, als sie unser herankommendes Auto bemerkten, warfen einen erschrockenen, teilnahmsvollen Blick auf mich und eilten sogleich weiter: Es war nicht ratsam, sich lange vor Gebäuden wie der Ljubjanka 2 aufzuhalten.
Ljubjanka 2 war das ehemalige Gebäude der Versicherungsgesellschaft »Rossija«, das die Bolschewiki in ein ausgeklügeltes Gefängnis verwandelt hatten. Es steht mitten im Herzen Moskaus, direkt im Zentrum gegenüber der früheren Mauer von Kitai-Gorod. Den vergleichsweise angenehmen Empirestil, in dem das Haus erbaut worden war, hatte man durch die drei oberen Etagen sozialistischer Geschmacklosigkeit verhunzt, die, wenn ich nicht irre, schon unter Jagoda aufgestockt wurden. Ihm waren die Mauern der Besitztümer seines Vorgängers Menschinski wohl zu eng.
Dieser »staatliche Horror« also erwartete mich.
Eine schwere, bluttriefende Atmosphäre umgibt dieses Golgota. Nur aus den Augenwinkeln schauen die Menschen in seine Richtung, wagen es kaum, den verschüchterten Blick zu heben. Begegnet ihnen auf dem Platz einer der weit ausholend, frech voranschreitenden Tschekisten mit blutroten Kragenspiegeln und einer dicken Aktentasche voller »Rechtsfälle«, fragen sie sich: Vielleicht ist er es? Mein künftiger Peiniger, oder der meines Vaters, meines Bruders, meiner Mutter? Vielleicht ist er es, der den Abzug des Revolvers drücken und mit einem Genickschuss das Leben eines hilflos zur Mauer gewandten Menschen, eines meiner Lieben oder irgendwann einmal auch mein eigenes beenden wird?
Wir gehen durch die Vorhalle, durch immer neue Türen, steigen fünf, sechs Stufen hinab und betreten einen großen Raum ohne Fenster. Grelle, große matte Lampen. Hinter einer niedrigen, bis zur Gürtellinie reichenden Absperrung Tische voller Papiere und Akten. Unzählige Papiere und Akten auch in den Wandregalen, die fast bis zur Decke reichen. Uniformierte Tschekisten rascheln mit Papieren, blättern und suchen. Mit ausgebreiteten Armen steht ein wenig abseits der Absperrung ein völlig nackter Mann mit Hornbrille und bebender Unterlippe. Ich werde zu ihm geführt, man befiehlt mir, mich nicht zu rühren, und ich kann auf seinem Körper die für nervösen Schüttelfrost typische Gänsehaut sehen.
Ein Rotarmist, oder Popka, wie man in den Gefängnissen der gesamten Sowjetunion jene kleinen Henker nennt, die die Häftlinge durchsuchen, bewachen, eskortieren – tastet den Nackten unter den Achselhöhlen ab und fährt mit der Hand in seine Leistengegend.
»Haben Sie spitze Gegenstände bei sich?«
»Wie kann ein nackter Mann spitze Gegenstände bei sich haben?«, fragt die »Hornbrille« gereizt.
Man befiehlt mir, mich ebenfalls zu entkleiden. Die schwitzenden Hände fahren über meinen Körper auf der Suche nach spitzen Gegenständen, und auch ich bekomme, wie mein Leidensgenosse, eine Gänsehaut.
Dies ist die sogenannte Leibesvisitation.
Es gibt zwei Sorten von Bewachern. Die einen sind Rotarmisten, die ihren aktiven Wehrdienst in den Truppen des NKWD ableisten, Menschen, bei denen man spürt, dass sie diese Dinge notgedrungen tun und von denen man oft einen mitfühlenden Blick erhascht.
Die andere Sorte sind die Popkas – »kleine Ärsche« aus Berufung, gewissermaßen aus »Liebe zur Kunst«. Stumpfe, äußerst beschränkte Menschen ohne Beruf, denen die Arbeit in Gefängnissen und Lagern nicht nur einen guten Verdienst, sondern auch ein gewisses Vergnügen beschert. Zu dieser Sorte von Bütteln gehören wahrscheinlich auch die Ermittler. Zu dieser Kategorie gehörte auch der Popka, der mich untersuchte. Er führte die Leibesvisitation ausnehmend gründlich durch. Nicht