»Aus dem Straflager entflohen … eine Politische …«
An dieser Stelle brach Michailows Tagebucheintrag ab. An die letzte Seite war ein Zettel angeheftet. Zuoberst stand in Druckbuchstaben: »Bodenanalyse Nr. 1937«, darunter, mit einem Bleistift, in der gleichmäßigen Schrift einer Frau, mit korrekt gesetzten Satzzeichen, Folgendes:
»Liebster, ich habe nur noch eine halbe Minute. Hunde und Suchtrupp sind ganz nahe. Das Wichtigste im Leben ist die Freiheit.«
Lange bewahrte ich diesen Zettel auf. Manchmal holte ich ihn hervor, las ihn immer wieder, und er rief keinerlei Empfindungen mehr in mir hervor. Bald schon hatte ich sowohl Irina als auch Michailow als auch den Zettel ganz vergessen.
Das Leben in der Taiga war farblos und langweilig. Im Winter, wenn nachts die Schneestürme tosten, spielten wir Karten und tranken Sprit. Im Chor sangen wir mit vom Frost heiseren Stimmen unser Lieblingslied über die Taiga.
»Wo der Schnee fliegt auf stürmischen Schwingen,
liegt im Norden, im fernen, ein Grab.
Frost und Taiga das Totenlied singen,
nur der Mond beugt sich bleich noch herab.«
Kalt ist es. Ach, wie kalt ist es auf dieser Erde!
DER PIANIST
An diesem Tag war es besonders heiß. Über dem aufgewühlten braunen Lehmboden flirrte die brütende Hitze. Mückenschwärme tanzten als Wolken über unseren Köpfen.
Ich arbeite an einer Pfahlramme. Der auf die Schnelle aus feuchtem Holz zusammengezimmerte Göpel steht auf dem Grund einer tiefen Schlucht, am Ufer des kleinen, aber kalten und schnellen Flüsschens Vuly-Sju-Iol. Von frühmorgens bis spätabends stemmen wir, neun abgerissene, hungrige Häftlinge, uns mit der Brust gegen die Schwengel der Rammwinde und gehen im Kreis, um den schweren eisernen Rammbär nach oben zu ziehen.
Die Rammwinde knarrt, das stählerne Seil spannt sich wie eine Saite, und wenn der Rammbär laut krachend auf den Rammpfahl fällt, wischen wir uns den Schweiß von der Stirn und versuchen auf jede erdenkliche Weise, das erneute Hochstemmen des herzlosen eisernen Ungetüms, das uns bis zur völligen Erschöpfung zermürbt, hinauszuzögern.
Der Zehnerleiter, ein kleines, pockennarbiges Männchen, sitzt auf einem Holzkloben, weist mit seiner Messlatte aus Kiefernholz auf die Sonne und mahnt immer wieder:
»Macht zu, Jungs, macht zu … Seht zu, dass ihr die Hälfte der Norm bis Mittag schafft!«
»Machen wir, machen wir, Golubtschik«, erwidert im selben Tonfall Jefimytsch, mein Nachbar am Schwengel, ein gekrümmter, schwindsüchtiger, ständig schwer hustender Alter, der, weil ihm die Brust wehtut, die vertrocknete Schulter auf den glattgescheuerten glänzenden Schwengel legt. »Wir geben alles, was wir können, Zehnerleiterchen, vielleicht geben wir dir bald auch unser bisschen Leben.«
Zehnerleiter Golubew kneift die scharfen Augen zusammen, sieht ihn an und sagt langsam:
»Du bist verdammt geschwätzig geworden, Jefimytsch, was brauch ich dein Leben, Freundchen, ich bin selbst nur Häftling.«
»Warum zum Teufel treibst du uns dann so an«, sagt daraufhin wütend Mitjka-Pan, ein alter Langfinger und Wiederholungstäter, und wendet ihm sein bleiches Gesicht zu. »Du hast kein Gewissen, du pockengesichtiger Deibel.«
Golubew lacht leise.
»Weswegen sitzt du, Pan?«, fragt er und gibt die Antwort gleich selbst. »Diebstahl! Und ich? Hab ich einen umgebracht? Oder beklaut? Oder hab ich mich gegen die Sowjetmacht gewendet, wie Jefimytsch da oder Serjoschka, oder Wsjewolod? Nehee, ich hab keine Gesetzesverbrechen nich gemacht … Wenn du’s genau wissen willst, Buchhalter war ich, im Kolchos, und da haben sie mich reingerissen … Hat einer fünf Fuhren Roggen aus dem Kolchosspeicher geklaut, und ich hatte die Verantwortung.«
»Du lügst doch, du Hund!« Mitjka-Pan spuckt aus. »Die hast du selbst stibitzt und die Schuld auf andre geschoben.«
Mitjka-Pan hat als Einziger von uns keine Angst vor dem Vorarbeiter. Und er ist auch der Einzige, über den sich der Zehnerleiter nicht bei der Lagerleitung beschwert, weil er nämlich Angst vor Mitjka hat. Mitjka weiß das und schmeißt die Arbeit öfter mal hin, packt sich gleich neben der Rammwinde in die Sonne, um zu schlafen. Golubew umkreist ihn und schreit rum, dass er ihn in die Isolationszelle bringt, Mitjka aber schließt die Augen, lächelt selig und verspricht gleichgültig:
»Ich brech dir gleich alle Rippen, pockengesichtiger Satan, wenn du nicht verschwindest und mich schlafen lässt.«
Am besten verstand ich mich mit Wsjewolod Fjodorowitsch. Er war Pianist von Beruf. Schon vor der Haft hatte ich Konzerte von ihm besucht, im Moskauer Konservatorium. Damals waren wir aber noch nicht persönlich miteinander bekannt. Er war ein kluger und begabter Mensch, siebenunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, bedächtig in seinen Bewegungen, ein wenig linkisch. Mit einer großen runden Brille, durch die gütige, kluge Augen blickten, strahlte er Warmherzigkeit und Anstand aus. Er war sehr schweigsam und leistete gefügig und fleißig jede Art von Arbeit. Man hatte ihn zu drei Jahren verurteilt, zweieinhalb davon hatte er bereits »abgesessen«. Wofür er verurteilt worden war, wusste Wsjewolod, wie die meisten Politischen, selbst nicht.
In Moskau lebte noch seine alte Mutter. Er schrieb ihr Briefe und lebte nur für ein Ziel: zu ihr zurückzukehren und wieder als Pianist zu arbeiten. Letzteres wurde jedoch durch einen Umstand erschwert: Die körperliche Arbeit hatte seine Hände so grob und schwielig werden lassen, dass er sie, wie er selbst sagte, kaum noch bewegen konnte. Das bedrückte ihn außerordentlich und ließ ihn nächtelang kein Auge zumachen.
Wenn wir uns abends nach der Arbeit entkräftet auf die schmutzigen, verlausten Pritschen fallen ließen, zeigte er mir seine verkrümmten, rauen Finger und fragte nervös:
»Was meinen Sie, Serjosha, ob die noch wieder werden?«
Ich gab mir alle Mühe, ihm glaubhaft zu versichern, dass er, ja, natürlich wieder spielen würde, doch im tiefsten Innern zweifelte ich daran. Und wie zum Trotz musste er während der ganzen drei Jahre im Konzentrationslager die schwersten Arbeiten verrichten: Mal stand er mit dem Spaten in der Hand bis zu den Knien im fauligen Sumpfwasser, mal schob er die schwere, mit Erde beladene Schubkarre oder schleppte sieben Meter lange Balken aus dem Wasser.
Es gibt Menschen, die sind so wendig und gerissen, die reißen sich die ganze Haftzeit über kein Bein aus, wie es so schön heißt. Die sehen zu, dass sie eine Arbeit als Friseur kriegen, oder als Koch, Depotwärter, Verwalter … Andere hingegen schieben jahraus, jahrein die schwere Karre. Das sind ehrliche, bescheidene, dem Schicksal ergebene russische Menschen, die für nichts und wieder nichts ins Lager geraten sind. Solch ein Mensch war auch Wsjewolod Fjodorowitsch.
Ein Stoß ließ die Winde erbeben. Der Rammenführer Kolja, mit fünfzehn noch ein richtiger Junge, zog an dem Fallseil und zählte laut die Anzahl der Aufschläge. Die Sonne stieg immer höher, ihre heißen Strahlen brannten auf unseren kahlrasierten Köpfen. Am linken und rechten Flussufer, fünfzig Meter von uns entfernt, waren Erdarbeiter dabei, Zufahrten für eine künftige Brücke aufzuschütten. Ich blickte nach oben und sah, wie vor dem Hintergrund des blauen Himmels auf den Erdkegeln Menschen mit Schubkarren auftauchten, einer nach dem anderen, armschwingend die Karren umkippten und sie leer wieder hinunterschoben. Sie erinnerten an große Vögel, die an den Rand eines Abgrundes geflogen kamen und erschrocken zurückflatterten.
Ein wenig abseits saß im dichten Schatten wilder Johannisbeersträucher der Wachsoldat auf einem Baumstumpf. Den Kopf auf der Brust, gestützt auf das Gewehr, das er nicht aus den Händen ließ, schlief er friedlich. Er war morgens schon betrunken gewesen, und jetzt, gegen Mittag, war er völlig hinüber.
»He, Gruppenleiterchen!«, rief Mitjka-Pan Golubew zu.
»Was-willst-du-denn?«, fragte der faul und schnitzte weiter Muster in seine Messlatte.
»Was, wenn ich mal eben zu dem Wachkerl da geh,