Taiga. Sergej Maximow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963114489
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Sie, was sagen Sie zu Ihrer Rechtfertigung?«, wandte er sich wieder an mich.

      Ich schwieg nachdenklich. Das hatten sie geschickt eingefädelt! Meine Rechtfertigung konnte ich nicht einmal mehr mit Rachegefühlen begründen: Ich hatte schließlich unterschrieben, dass ich mit Dubow keine Rechnung offen hätte. Und ich würde es auch nie fertigbringen, derart dreist zu lügen. Doch wie sonst konnte ich mich rechtfertigen?

      »Ich werde vor Gericht die Wahrheit sagen. Sie haben ihm Angst eingejagt und ihn gezwungen, den ganzen Unsinn zu unterschreiben.«

      Der Ermittler brach in Lachen aus und drückte den Klingelknopf.

      »Ha! Und Sie denken, dass man Ihnen glauben wird? Sie sind ein sonderbarer Mensch …«

      Ich sah Dubows gebeugter Gestalt nach, als dieser in Begleitung des Wachsoldaten den Raum verließ, und dachte an jenen fröhlichen, klugen, ehrlichen, wunderbaren Kameraden zurück, der er einmal gewesen war. Sollte ich ihn jetzt anklagen, weil er mein Leben zerstörte, um seines zu retten? Und würde es mir besser gehen, wenn zu den sieben oder acht Millionen politischen Gefangenen noch einer mehr hinzukäme? Tief in meinem Herzen rührte sich ein weiterer Gedanke, eine Hoffnung: Vielleicht würde er ja vor Gericht seine Aussagen zurücknehmen und den Richtern mutig erzählen, wie man ihn gezwungen hatte, diese schreckliche, üble Verleumdung zu unterschreiben.

      Durch das Gitter des Fensters drang frühlingshafter, süßer Pappelduft in die Zelle.

       Der Prozess

      Gerichtssaal Nr. 4 des Moskauer Stadtgerichts.

      Wir sitzen in der ersten Stuhlreihe. Direkt vor uns steht auf ­einem Podest ein großer Tisch, dahinter drei leere Armstühle; der mittlere ist höher und solider gebaut als die anderen, das ist der Richtersessel. Von der Wand blickt spöttisch, mit leicht zusammengekniffenen Augen Stalin auf uns herab.

      Außer uns, den Angeklagten, befinden sich im Saal noch vier Wachsoldaten, die unbeweglich hinter uns stehen, sowie die Protokollantin, ein stupsnasiges, rotwangiges Mädchen, das links von uns an einem gesonderten Tischchen in irgendwelchen Papieren wühlt.

      Aus dem Warteraum klingt Stimmengewirr. Dort sind unsere Angehörigen und auch einfach nur fremde Menschen, die alle auf unser Urteil warten. Die Fremden warten nicht aus purer Neugier, sondern um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, welches Schicksal ihre Brüder, Väter, Töchter erwartet, die noch in der Ljubjanka oder der Butyrka einsitzen und noch nicht an der Reihe sind, selbst vor dem »gerechtesten aller Gerichte, dem proletarischen Gericht« zu erscheinen.

      Über uns richten wird bei geschlossenen Türen ein spezielles Kollegium, denn politische »Verbrecher« werden im Land der Sowjets unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt.

      Das stupsnasige Mädchen erkundigte sich, ob wir mit der Anklageschrift bekanntgemacht worden seien. Als wir verneinten, reichte sie uns einen dicken Hefter: 352 Seiten!

      Wir blätterten darin. Vernehmungsprotokolle, Protokolle der Zeugenaussagen, Fotos. Das war alles. Seltsam: es fehlten sämtliche an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden über die Misshandlungen der Ermittler, denen wir während der Verhöre ausgesetzt waren. Und wir hatten viele solcher Beschwerden eingereicht: an den Moskauer Staatsanwalt, an Generalstaatsanwalt Wyschinski, an den für die Kontrolle des NKWD zuständigen Staats­anwalt.

      Auf unsere Frage, wo all diese Beschwerden geblieben seien, zuckte das Mädchen nur mit den Schultern und erwiderte nichts. Vielleicht würde das Gericht sich dazu äußern?

      Ermüdendes, nervenaufreibendes Warten. Dann endlich öffnete sich rechts von uns eine Tür, und drei Männer kamen schnellen Schritts herein, zwei von ihnen in Zivil, einer in einer khakifarbenen Militärbluse und in Reithosen. Das waren die Richter: Iwanow, Pronin, Sedych. Den Vorsitz hatte Iwanow, der in der Militärbluse.

      Zügig, wie Leute, die viel zu tun haben, nahmen sie ihre Plätze ein, und nach der offiziellen Gerichtseröffnung und dem Verlesen der Anklageschrift fragte uns der Vorsitzende Iwanow der Reihe nach, ob wir uns schuldig bekannten. Nachdem er von jedem von uns ein Nein vernommen hatte, lächelte er ironisch und wechselte Blicke mit den Beisitzern.

      Er dachte einen Augenblick lang nach und fragte dann:

      »Warum haben einige von Ihnen sich während der Untersuchung schuldig bekannt, leugnen jetzt aber ihr Verbrechen. Zum Beispiel Sie, Angeklagter Sharow …«

      Mein Kamerad, der Student Sharow, erhob sich, und erkundigte sich, nachdem er um Erlaubnis gebeten hatte, wo denn die an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden abgeblieben seien.

      »Haben Sie denn welche geschrieben?«, fragte Pronin schnell.

      »Ja.«

      »Wenn Sie welche geschrieben hätten, wären sie auch da«, entgegnete Iwanow und fügte hinzu: »Worum ging es denn darin?«

      »Um unkorrekte Führung der Untersuchungen, man hat uns gequält, verhöhnt und gewaltsam gezwungen, die Protokolle zu unterschreiben.«

      »Hat man Sie vielleicht auch geschlagen?«, fragte Iwanow mit spöttischem Lächeln.

      »Nicht nur das! Man hat uns tage- und nächtelang gezwungen, auf der Stelle zu stehen, man ließ uns nicht schlafen, steckte uns die Mündung eines Brownings in den Mund, ließ uns im Karzer hungern, und …«

      »Offenbar streben Sie an, dass ich Sie wegen Verleumdung des NKWD zur Verantwortung ziehe?«

      Alles klar. Der NKWD und des Sonderkollegium des Moskauer Stadtgerichts waren vom selben üblen Schlag.

      Anderthalb Stunden lang versuchten die Richter uns im Kreuzverhör die »konterrevolutionäre terroristische Organisation der Studentenschaft Moskaus« nachzuweisen, und als sie begriffen, dass sie mit »Terror« und »Organisation« nicht weiterkamen, warfen sie uns alle möglichen Nichtigkeiten vor: antisowjetische Witze, zweideutige Aussagen, die wir irgendwo getätigt hatten und die irgendjemand mitgehört hatte.

      »Den Zeugen Dubow bitte«, befahl Iwanow dem Wachpersonal.

      Die Zeugen waren unsere letzte Hoffnung. Sie alle waren Kommilitonen, einige von ihnen waren alte Freunde aus der Kinderzeit. Würden sie dem Gericht tatsächlich nicht erklären, dass alle Angaben den Köpfen der Untersuchungsrichter entsprungen waren, und dass von ihnen selbst nur die Unterschriften stammten? Würden sie tatsächlich nicht den Mut zur Wahrheit aufbieten?

      Dubow kam herein und stellte sich schüchtern, möglichst weit von uns entfernt, vor den Richtertisch.

      »Zeuge Dubow, ich erinnere Sie an Ihre Angaben, die Sie bei der Voruntersuchung gemacht haben.«

      Iwanow suchte die entsprechenden Seiten heraus und las den in schlechtem Russisch abgefassten, von Dubow unterschriebenen Unsinn vor. Die meisten Anschuldigungen waren gegen mich und den Ingenieur Pawlow gerichtet, aus dem der Ermittler einen »Oberst der weißen Armee und den unmittelbaren Anführer der studentischen terroristischen Organisation« konstruiert hatte.

      Nachdem die Verlesung beendet war, wandte er sich wieder an Dubow:

      »Bei der persönlichen Gegenüberstellung haben Sie Ihre Angaben bestätigt. Was sagen Sie der Justiz?«

      »Ich … bestätige alles.«

      »Haben Sie etwas hinzuzufügen?«

      »Nein.«

      »Fragen an den Zeugen?«

      Nein. Wir hatten keine Fragen.

      Alle Zeugen traten so auf wie Dubow.

      Uns wird das letzte Wort gewährt.

      Was sollen wir sagen? Um Nachsicht bitten? Nein. Nein!

      Wir verzichten auf das letzte Wort.

      Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Wir warten auf das Urteil.

      Die Türen öffnen sich weit, und alle, die es wünschen, dürfen der Urteilsverkündung beiwohnen. Ach, hätte man sie doch früher hereingelassen!

      Der