Ado war ihr drittes Kind, rund und versponnen. Er war ihr nah, die beiden anderen waren Vater-Kinder, groß, hell und ehrgeizig. Wenn der Vater auch ihm Disziplin und Abhärtung beibringen wollte, flüchtete Ado sich zur Mutter, die ihn in Schutz nahm. In seiner Liebe und Nachsicht gegenüber Paula sah Heino seine einzige Schwäche. Andere Schwächen erlaubte er sich als preußischer Pflichtmensch nicht. Sie war jung, als sie heirateten, eine verwöhnte Tochter aus der großen jüdischen Familie Pringsheim, und er erlag ein Leben lang ihrem Charme und ihrer Komik. Für Seka das Bild eines innigen Liebespaares.
Dem Haus in Höchst, wo Heino Landrat gewesen war, trauert Paula nach, dem Haus von mediterraner Anmutung, dem großen Garten am Fluss. Der kleine Ado beobachtet den Vater morgens auf seinen immer gleich bemessenen Runden, steif mit dem Stock, den er quer über seinen Rücken in die Armbeugen spannt. Tut es nicht weh? Ist es nicht trostlos, auf dem immer gleichen Weg zu gehen, ohne Abweichung, ohne Verlockungen, den Blick nie ins Unbekannte gerichtet, sondern nur geradeaus? Der vier Jahre ältere Bruder Gyso ist der standesbewusste Nachfolger des Vaters, der den Sohn früh in die Potsdamer Garnison des GardeUlanen-Regiments einführt.
Während Paula und Seka in zierlichen Sesseln des Salons beim Tee sitzen und ihr Leben erzählen, liegt Freda, die erstgeborene Tochter, nicht weit von ihnen in ihrem Zimmer unter einem Baldachin, erschöpft von Schmerzen und Depressionen. Als Kind blitzte früh ihre Begabung für das Klavier auf, und dem kleinen Bruder brachte sie Lieder von Schubert bei, die sie begleitete. Mit diesen Liedern traten sie einmal bei einer Teestunde am Hofe auf, dem vierjährigen Ado lief an den nackten Beinen ein Rinnsal hinab und bildete um seine Füße einen kleinen See. Vom Flügel aus sah Freda, zehn Jahre alt, es mit Bangen, aber Kaiser und Kaiserin lächelten.
In den 20er Jahren führte Freda einen Salon. Manche Künstler unterstützte sie, vor allem Else Lasker-Schüler. Diesen Namen lernt Seka im Achenbach’schen Haus kennen, sie findet ihr Bändchen Meine Wunderund liest die ungebärdigen Gedichte. Hier versteht sie alles, manche Zeilen scheinen für ihr Jetzt geschrieben.
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen ...
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du! Wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
24
Aus der Stadtvilla führt eine Pforte in den Tiergarten. Dunkelgrüne Rhododendron-Büsche mit ihren übertriebenen Blüten-Halbkugeln wuchern am Wasserarm der Spree, im rußigen Kriegsberlin eine unüberbietbare Pracht, rosa, violett und weiß. Blütenblätter liegen auf den flachen Wassern. Gelbe Sumpfdotterblumen stechen an glatten Stielen aus dem nassen Ufer, wo sich Vorjahresblätter wie eine schwarze Decke über den Grund legen. Das dunkle Wasser steht an den Rändern kristallklar. Ado hatte sogar in Zagreb von diesem Rhododendron gesprochen. Seit dort die Bänke für Juden verboten sind, geht Paula nicht mehr in den Tiergarten. »Könnten wir es nicht wagen mit dem Kinderwagen und Dunja an der Hand? Wenigstens bis zum Rhododendron?«, wiederholt Seka, und endlich schreitet Paula gemessen über die Kieswege, erregt von der fast vergessenen Schönheit. Den gelben Stern hat sie mit ihrem Schal halb verborgen, wie unabsichtlich, obwohl sogar diese Möglichkeit im Regelwerk der neuen Verordnungen vorausgesehen und verboten ist. Seka gefällt es, Verbote zu brechen. »Bitte, Paula, lassen Sie uns kurz hinsetzen, Dunja ist müde.« Sie bittet um den Gefallen, den sie ihr erweisen möchte, Paula sträubt sich noch: »Aber Sekachen, Sie wissen doch, dass es mir nicht erlaubt ist.« Seka bittet eindringlicher, und so setzen und entspannen sie sich endlich. Bis ein altes Paar um die Wegbiegung kommt und sich auf der Bank schräg gegenüber niederlässt. Mild lässt es den Blick über die Familienszene streichen, gleichzeitig entdecken beide die Spitzen des gelben Sterns. Alles verändert sich. Das Paar sitzt reglos, Paulas Rücken versteift sich, Seka bringt ihre freche Waffe, die Pose einer unbefangenen Ausländerin, in Stellung. Doch die zwei Alten blicken ohne ein Wort traurig die weißhaarige Dame auf der verbotenen Parkbank an. Diese beiden Deutschen, denkt Seka, bitten mit den Augen um Verzeihung.
25
Es ist Paulas Cousin, der einen Kaiman vom Orinoko aus Venezuela mitbringt. Der Winter ist kalt, das kleine Krokodil liegt stocksteif auf der Hand des Onkels, der es seinem Neffen mit Bedauern nur noch zum Ausstopfen schenken kann. Der achtjährige Ado legt es zum Spott aller auf die Heizung und beobachtet es. Lange, hartnäckig. Und tatsächlich kommt der Moment, in dem sich das Krokodil regt. Es ist auf der Überfahrt in Schockstarre gefallen und kehrt unter Ados Blicken zum Leben zurück.
26
Ich suchte meinen zweiten Schuh in einer sich stetig verwandelnden Traum-Landschaft, am Wegrand entdeckte ich den runden Sandwall mit einem Loch in der Mitte, worin eine riesige Eidechse seit undenklichen Zeiten eingewachsen war, halb behütet, halb gefangen. Ihr Schwanz war am Körper hochgebogen, die Spitze schaute neben dem großen Kopf heraus, der im Sand lag, die Augenlider geschlossen. Plötzlich regte sie sich, die Augenlider hoben sich. Sie guckte mich an, bewegte sich in sich, und mit einer ungeheuren inneren Anstrengung katapultierte sie sich aus dem engen Loch, umfasste mich mit ihrem feinen Schwanzende und setzte mich auf ihren Leib. Sie hielt zu meinem Schutz ihren Schwanz hochgebogen, im Rücken spürte ich die sonnenwarme Eidechsenhaut.
Sie rannte los, kam vom Weg ab, wir stürzten unendlich tief, aber die Eidechse federte den Aufprall ab, wir landeten sanft in einer grünen, vertrauten Schlucht. Ich sagte zu ihr: »Ich hatte keine Angst vor dir, das hat mich verführt, dich so lange zu betrachten. Und Angst habe ich deswegen nicht, weil mein Vater immer Eidechsen hatte.«
Zu meiner Überraschung antwortete sie: »Das sind seltene Menschen.«
27
Berlin beginnt für Ado mit einem Elite-Internat. Kummervoll sieht Paula, wie er ihr fremder wird. Die Gymnasiasten steigen nachts durchs Fenster und schwärmen in die Stadt der Cafés, Bordelle, Künstler, politischen Debatten aus. In der Schulaula lassen verschworene Freunde aus dem großen Ventilator an der Decke einen Schwarm von Flugblättern gegen das reaktionäre Kaisertum auf die Versammelten niedersegeln. Die Schule entledigt sich der Hauptunruhestifter, es sind Ado und ein Sohn der Bismarck-Familie. Das Abitur holt Ado nie mehr nach, stattdessen bewirbt er sich an der be -rühmten Schauspielschule von Max Reinhardt und sieht auf der Theaterbühne für sich das Zukünftige.
Der Erste Weltkrieg reißt alles ein. Die Achenbachs fühlen kaiserlich-national, Vater Heino und Sohn Gyso melden sich sofort an die Front, Heino als Offizier, Gyso als Fahnenjunker des Ulanenregiments. Nur Ado lässt sich vom kriegerischen Furor nicht mitreißen, widersteht dem Sog als einer von sehr wenigen. Gyso fällt in den ersten Kriegswochen in Frankreich. Fotos und Zeichnungen von dem schönen, blond gelockten Jungen hängen in silbernen Rahmen an den Wänden. Er ist und bleibt für immer der 22-jährige Familienerbe. Nach einer Schonfrist, die man der Familie für den überlebenden Sohn gewährt, wird Ado zwei Jahre später zur Musterung einberufen. Er präpariert sich zum Untauglichen. Simulation ist bei den Musterungskommissionen stets der Verdacht und wird im zweiten Kriegsjahr, in dem die Sehnsucht der jungen Männer nach dem Aufbruch ins Feld verflogen ist und kaum noch einer freiwillig an die Front geht, schwer bestraft. Ado strapaziert sich bis an seine Grenzen, von dem jungen Mediziner Dr. Heinz Klapper lässt er sich mit Spritzen traktieren und tritt am Ende als nervenkranker Zwanzigjähriger vor die Kommission, und sie erklärt ihn für nicht kriegsverwendungsfähig. Diese bestandene Prüfung wird zum Unterpfand ihrer Freundschaft, die ihn und Klapper als Exilanten wieder zusammengeführt hat. Ado