Aus der Küche führt eine Tür in den Garten, durch sie springt Slavica herein, Terezas unbändige Tochter. Mit ihrem ganzen Körper drückt sie sich an die Mutter. Beide wohnen im kleinen Haus im Garten. Ein Vater ist nie zu sehen, mit dieser Mutter wie ein Berg ist ein Vater entbehrlich. Die Mädchen nicken sich höflich zu wie zwei Erwachsene. Sie sind im selben Jahr geboren und sind nah und vertraut, wenn sie allein im Garten spielen, der sich den Abhang hinunter bis fast ans Zentrum von Sarajevo streckt. Sie schleichen durch Büsche, die dicht und starr stehen wie ein Dschungel, kriechen durch den Zaun zur gutmütigen Wäscherin nebenan, die sie immer bei den Bottichen und Wäscheleinen finden. Doch die Mädchen sind zwei Ungleiche: Slavica steht unter dem Schutz ihrer mächtigen Mutter und verteidigt diesen Platz, Seka ist ohne solche Geborgenheit. Tereza sieht den frühen Kummer und weiß, dass sie ihn den Kindern nicht ersparen kann.
9
Sekas ältere Schwester Jelena ist hell und kräftig, sie ist die andere, die gesunde, neben der dunklen, dünnen, herben Seka. Nach der Sturzgeburt, als die Eltern fürchteten, dass sie nicht überleben werde, gaben sie ihr den Namen Marija. Aber alle nennen sie zärtlich Seka, Schwester, Jelenas kleine Schwester.
Als die beiden Mädchen acht und fünf Jahre alt sind, erkranken sie an Diphtherie. Es werden viele sterbenskrank, ein Erdbeben in Bosnien scheint die Krankheiten aus den Klüften freigesetzt zu haben. Fieber, Atemnot, Ohnmacht. Ein Luftröhrenschnitt rettet die Schwestern.
Seka löst sich aus ihren Fieberträumen, zu ihren Füßen ein Inder mit weißem Turban. Er hält ihre Zehen umfasst, lächelt, schiebt seinen Kopf nach links, nach rechts und begrüßt sie höflich: »Da sind Sie ja wieder.« Ihre Schwester Jelena sei schon gesund, erklärt er, sie warte zu Hause auf Seka. Von nun an ist dieser Krankenpfleger um sie. Er atmet mit ihr, streicht mit schmalen dunklen Fingern über ihren Rücken, ihre Hände, ihre Stirn, er singt schwebende, hingezogene Melodien. Sie weiß nicht, wer ihn aus der Ferne nach Bosnien gebracht hat, es scheint, als sei er ihretwegen gekommen. Das geht so, bis sich der Frühling zeigt, und eines Tages wickelt er Seka in Schal und Decke ein und setzt sie zur Mutter in die Kutsche. Die Kutsche rollt an, sie sieht noch den Turban über dem schlanken Kopf, will weinen, doch dann hört sie die Hufe auf dem Steinpflaster, sieht glänzende Blattknospen, die aufspringen wollen, riecht die Erde, die nass ist vom getauten Schnee. Sie nimmt mit ihren entleerten Sinnen die vergessene maßlose Welt auf und fährt ihr entgegen.
Am Friedhof lässt die Mutter einbiegen, nach wenigen Metern steht die Kutsche vor einem frischen Grab, die Mutter steigt aus und legt Blumen darauf. »Hier liegt Jelena.« Seka glaubt die Mutter zu hören: Wie kann es sein, dass du überlebt hast und nicht meine gesunde und strahlende Jelena? Beide verzeihen es einander nie.
10
Der Vater nimmt sie auf eine weite Reise mit, bis zur arabischen Halbinsel, zu den Wüstenfelsen von Petra, zu seinem Freund, der Archäologe ist und dort an Ausgrabungsstätten arbeitet. Die Luftveränderung soll Seka stärken. Weiße Zelte sind auf einem Bergplateau für die Archäologen und Reisenden aufgestellt, auf einer Bank im Zelteingang liegt sie, im Rücken glänzende bunte Kissen, und schaut auf einen Berg, in den von unten bis oben Stufen geschlagen sind, die zu einem heiligen Grab führen. Rot der Felsen, weiß die Stufen, schmal und ungleichmäßig. Mit Blicken folgt sie von ihrem Lager aus den Leuten in langen Gewändern und den Eseln, die den ganzen Tag hinaufsteigen und wieder hinunter. Auch die Archäologen mit ihren weißen Hüten sieht sie hinaufwandern, sie ziehen an der Pilgerstätte vorbei und verschwinden hinter dem Bergkamm. Seka mag die Geschicklichkeit der Esel.
Das Zeltdach ragt über ihre Bank, weiße Troddeln hängen herab, sie glitzern mit einem eingeflochtenen Silberfaden. Seka schaut auf die weichen Quasten, die sich im leichten Wind drehen, sie folgt ihrem Schwirren und Silberfunkeln vor der durchsichtigen Luft und beginnt zu schweben wie diese Troddeln. »Vielleicht bin ich schon in der anderen Welt?« Sie ist nicht traurig, in ihr ist ein Wundern. Der Vater kommt.
– Woran denkst du, Sekica?
– An nichts.
– Doch, sag es mir.
Sie dreht sich weg: Weißt du es denn nicht von allein?
Eine kräftige Bö fährt in die Zelte, und der Vater ruft in den Wind: »Fliegen müsste man können, so wie der Hut!« Und er schleudert seinen Strohhut in die Luft, beide sehen zu, wie er vom Plateau in das weite Tal hinabsegelt.
11
Großvater Vukobegović holt seine jüngste Enkelin Seka in der Kutsche ab. Er lebt allein auf einem Landgut bei Brčko, in Nebenhäusern wohnen zwei Schwestern, die nicht geheiratet haben und für ihn sorgen. Ihm gehören die Felder und Wälder rundum, es wird gepflügt, gepflanzt, geerntet, alles ist in Bewegung, doch nie erlebt Seka dort jemanden in Unmut oder Zorn, als ob unter der Weisheit des Großvaters alles zur Ruhe komme. Im Haus besteht die untere Etage aus den beiden Minderluk-Zimmern, in denen rundum Wollmatratzen an den Wänden liegen, darauf Kelims mit ihren verwunschenen Ornamenten. Für Gäste werden die Matratzen nachts ausgebreitet. Hinter geschnitzten Holztüren, die eine ganze Wand einnehmen, sind Betten und Decken zusammengerollt. In der oberen Etage schläft der Großvater. Und auch Seka. Niemand sonst.
Im Sommer stellt der Großvater zwei Kanapees in den Garten, dort plaudert er im Schatten der Baumkronen mit seinen Besuchern, raucht, trinkt Tee, liest. In einen Baum hängt er einen Topf mit einer roten Geranie. Wie sich das Rot und das Grün gegenseitig stärken, darauf weist er die Enkelin hin. Er nimmt sie ernst, seit sie miteinander sprechen können.
In einem der unteren Zimmer liest der Großvater mit drei Freunden jede Woche im Koran. Die Folianten liegen aufgeschlagen vor ihnen in leichten Holzgestellen. Seka schaut ihnen von der Treppe aus zu, wie sie sitzen und sich versenken. Sie hoffen, erklärt ihr der Großvater, dass sie etwas bislang Übersehenes entdecken werden.
Im Nebenraum steht ein aufklappbares Tischchen mit Filzbelag und Goldrand, auf dem der Großvater Patiencen auslegt. Er spielt die Große Napoleon, bei der er in komplizierten Zahlenreihen rechnen muss. Er ist immer besorgt, seine Patience könnte vom Wind, von den Katzen, vom Personal durcheinandergebracht werden, aber wenn es geschieht, kann er sie rekonstruieren. Er spielt sie wochenlang, und wenn sie aufgeht, ist er glücklich, schickt sogar Briefe mit dieser Nachricht herum. Die Kleine Napoleon bringt er der Enkelin bei.
Vor langer Zeit ist seine Frau auf der Reise bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Die Kutschen rollten aus Istanbul, dem prachtvollen Mittelpunkt der unermesslichen islamischen Welt, heim nach Bosnien und hatten schon Bulgarien fast durchquert, da setzten bei ihr die Wehen ein. Vier Tage kämpfte sie um ihr Leben, am Ende war sie verblutet. Das Kind lebte. Sie fuhren in der Kutsche weiter: der Vater mit dem Kind und einer Amme, die es stillte. Und mit der Toten, um sie zu Hause zu begraben.
Er erzog seine Tochter selbst, heiratete nicht wieder, widmete ihr seine ganze Aufmerksamkeit, liebte sie verschwenderisch. Als sich ihr klarer Verstand zeigte, suchte er für sie die beste Schule in der Gegend. Es war ein Kloster der Franziskaner, er zögerte nicht, sie dorthin zu geben, für ihn waren Christentum und Islam einander nah. Als sie zu einer eifrigen Katholikin wurde, tat es seiner Liebe zu ihr keinen Abbruch. Er verzieh ihr alles.
Diese Tochter des Großvaters ist Sekas Mutter. Über ihr herrisches Gebaren können beide gemeinsam klagen.
12