Im Land des Feindes. Marthe Cohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marthe Cohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761396
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Autounfall ums Leben gekommen, ein Kind war gestorben, als es noch ganz klein war, und sein überlebender Sohn war autistisch und sprach kein Wort. Trotz dieser Schicksalsschläge war Benoît gelassen und unbeschwert, also das genaue Gegenteil seines aufbrausenden Bruders. Mein Vater hatte Benoît im Waisenhaus unter seine Fittiche genommen und die beiden Brüder standen sich seitdem sehr nah. Benoîts Gegenwart hatte eine beruhigende Wirkung auf meinen Vater.

      Es war für Benoît und Fannie sicher nicht leicht, plötzlich neun Leute – einschließlich meiner Großmutter – bei sich aufzunehmen. Wir blieben allerdings nur ein paar Tage und zogen dann in die leere Wohnung darunter. Später stießen noch Jacquies Onkel Oskar Kluger und ein paar andere Verwandte aus Metz zu uns, darunter mein geliebter Onkel Léon – ein jüngerer Bruder meiner Mutter –, seine Frau Claire und ihre gemeinsame Tochter Myriam.

      Léon war Geschäftsmann. Er besaß einen Laden in Metz und hatte ebenso wie wir alles zurücklassen müssen. Er verehrte meine Mutter und schätzte meinen Vater. Er sah gut aus, war intelligent und freundlich und als eins von acht Kindern an Trubel gewöhnt. Wie alle Brüder meiner Mutter mochte er mich besonders gern, weil ich ihn an sie als junges Mädchen erinnerte. Wir waren sehr froh, dass er uns in dieser fremden Stadt Gesellschaft leistete.

      Mehrere Tage lang schliefen wir, wo wir gerade ein Plätzchen fanden: auf Sofas oder dem Fußboden, bis uns die Stadtverwaltung Unterkünfte zuwies. Cécile und ich teilten uns ein Zimmer in der Wohnung einer netten, gutbürgerlichen Familie, den Laffons, die überaus freundlich zu uns waren. Madame Laffon hatte einen Sohn im Ersten Weltkrieg verloren und wir konnten ihr keinen größeren Gefallen tun, als ihr zuzuhören, wenn sie uns jeden Tag seine zerknitterten Briefe von der Front vorlas und weinte, als wäre es das erste Mal. Sie schien nicht über den Verlust hinwegzukommen.

      Tagsüber versammelten wir uns in Benoîts Wohnung oder erkundeten die Innenstadt und abends kehrten wir in unsere jeweiligen Unterkünfte zurück. Wir hatten weder ein eigenes Geschäft noch irgendwelche Einkünfte, ja nicht einmal ein eigenes Dach über dem Kopf. Vater konnte nicht arbeiten, da er nur gebrochen Französisch sprach und kaum jemand in Poitiers Deutsch verstand. Cécile, Stéphanie und ich streiften tagelang durch die engen, verwinkelten Gassen, bewunderten die Kathedrale, die wunderschönen romanischen Kirchen, die Universität und die galloromanischen Ruinen. Wir schlenderten durch das Straßengewirr und staunten über die Fachwerkhäuser aus dem 15. Jahrhundert und die Residenz der Herzöge von Aquitanien. Bald schon kannten wir die Stadt wie unsere Westentasche.

      Nach einem Monat, als sich die Situation im restlichen Europa nicht gebessert hatte, begriffen wir, dass dies nicht nur ein kurzer Urlaub war. Cécile fand ein möbliertes Haus mit einem großen, ummauerten Garten in Chauvinerie, am Ende eines steilen Hügels nördlich des Bahnhofs, und so war unsere Familie endlich wieder vereint.

      »Lasst uns ein eigenes Geschäft aufmachen«, schlug Maman kurz nach unserem Einzug enthusiastisch vor. »Dann hätten wir ein Einkommen und außerdem was zu tun.«

      Mit Onkel Léons Hilfe und dem Geld, das uns Fred bei seinem letzten Heimaturlaub gegeben hatte, mieteten wir einen Laden in der Rue de la Regratterie und eröffneten einen Kleidergroßhandel. Wir tauften unser Unternehmen »Etablissement Elby«, L.B., nach den Initialen meines Onkels. Onkel Léon fuhr mit seinem Wagen in entlegene Dörfer und bot unsere Waren in kleinen Läden an. Schon bald florierte das Geschäft und Cécile, Léon und ich arbeiteten ununterbrochen, sechs Tage die Woche, um unsere Kunden zufriedenzustellen.

      Maman blieb zu Hause und kümmerte sich um den Haushalt, während Papa die Auktionshäuser abklapperte und alte Uhren und Lampen ersteigerte, um sie später weiterzuverkaufen. Hélène, Rosy und Jacquie gingen zur Schule. Die friedliebende, stille und bescheidene Stéphanie, die immer noch unbedingt Ärztin werden wollte, begann ihr Medizinstudium an der örtlichen Universität. Jeden Abend kam sie strahlend nach Hause und erzählte uns begeistert, was sie gelernt hatte. Sie war intelligent und aufgeweckt und äußerst warmherzig. »Mein größter Wunsch ist es, anderen Menschen zu helfen«, sagte sie oft und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht so selbstlos war wie sie.

      In unserer knapp bemessenen Freizeit arbeiteten wir als freiwillige Helferinnen im örtlichen Flüchtlingszentrum, einer Einrichtung, die französische Flüchtlinge unterstützte, die aus dem Osten Frankreichs nach Poitiers strömten. Auf der Flucht vor den Deutschen hatten Hunderttausende ihre Heimat verlassen. Stéphanie und ich hatten uns kurz nach unserer Ankunft in Poitiers freiwillig gemeldet. Wir verbrachten viele Stunden in diesem Zentrum am Bahnhof und kümmerten uns um die Hunderte Menschen, die täglich eintrafen. Als wichtiger Knotenpunkt auf der Bahnstrecke zwischen Paris und Bordeaux war Poitiers nicht nur als Evakuierungsort für Flüchtlinge aus Metz bestimmt worden, sondern auch als Durchgangsstation für alte Männer sowie Frauen und Kinder, die hier ein oder zwei Tage Rast einlegen konnten, bevor sie in die ihnen zugewiesenen Städte im Westen oder Süden weiterreisten. Da wir selbst Flüchtlinge waren, hatten wir Mitleid mit diesen Menschen und versuchten, ihnen ihre Situation zu erleichtern, indem wir für die Elsässer und Lothringer, die kaum Französisch sprachen, dolmetschten.

      Wir wurden sofort herzlich aufgenommen von den jungen Männern und Frauen des örtlichen Jugendherbergswerks, die dort ebenfalls als Freiwillige arbeiteten. Unter ihnen war Nonain, ein kleinwüchsiger Kommunist, der lautstark über Hitler und die Brutalität seiner Armeen herzog.

      »Dieser Dreckskerl ist einfach größenwahnsinnig«, wetterte er. »Er wird keine Ruhe geben, bis er ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hat.« Er verteidigte vehement die kommunistischen Anschläge gegen die Faschisten in Italien, Spanien und Deutschland und war äußerst besorgt wegen der Auswirkungen des Hitler-Stalin-Pakts.

      Über Nonain lernten wir Heinrich kennen, einen großen blonden Deutschen, der wegen seiner kommunistischen Überzeugung seine Heimat und seine Familie verlassen hatte und seine Arbeitsstelle aufgeben musste. Er war sogar in Spanien gewesen und hatte sich den Republikanern im Kampf gegen Franco angeschlossen. Seit 1936 hatten meine älteren Geschwister und ich die republikanische Armee sowohl moralisch als auch finanziell unterstützt. Wir mochten Heinrich, wir wussten, wie es war, aus seiner Heimat vertrieben zu werden. Deshalb hatte er unser ganzes Mitgefühl. Er sah gut aus, hatte leuchtend blaue Augen und eine Schwäche für Cécile, die ihn ihrerseits links liegen ließ. Meine Eltern hingegen waren ihm zugetan. Durch ihn hatten sie die seltene Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, und so luden sie ihn häufig zu uns zum Essen ein. Dann diskutierten wir meist angeregt über Politik. Es imponierte mir, wie ergreifend er von seinen Überzeugungen sprach, und ich bedauerte es, dass nicht alle Deutschen so waren wie er.

      »Warum bist du eigentlich so unfreundlich zu Heinrich?«, fragte ich eines Abends Cécile in der Küche, nachdem er den Abend bei uns verbracht hatte.

      »Weil ich ihm nicht über den Weg traue«, erklärte sie kategorisch.

      »Aber Cécile!«, rief ich. »Du kannst doch nicht allen Deutschen misstrauen. Heinrich empfindet gegenüber Hitler das Gleiche wie wir. Oft ist er der Erste, der ihn kritisiert.«

      »Das ist mir egal«, erwiderte sie. »Ich traue ihm trotzdem nicht.« Und dabei blieb sie.

      Fast ein ganzes Jahr lang passierte nichts, was die tägliche Routine unseres neuen Lebens in der französischen Provinz gestört hätte. Der Laden ernährte uns, die Flüchtlinge kamen und gingen, und unsere Freundschaften mit anderen jungen Leuten wie den Mitgliedern des örtlichen Jugendherbergswerks vertieften sich. Wenn wir in der Natur wanderten oder im Clain schwammen, vergaßen wir fast, dass unser Leben bedroht war. Wir veranstalteten Picknicks im Park, zelteten mit unseren Freunden und kamen anschließend müde und glücklich nach Hause, wo wir von weiteren müßigen Tagen träumten.

      Währenddessen ging der Sitzkrieg weiter: Die französischen Truppen hatten sich hinter der Maginot-Linie verschanzt, die deutschen hinter dem Westwall. Von kleineren Scharmützeln abgesehen, verharrten sie in ihren Stellungen. Großbritannien hatte mehrere Hunderttausend Soldaten nach Frankreich geschickt, um unsere Verteidigung zu stärken, während die tapferen Finnen in Skandinavien ihr Bestes gaben, um die plündernden Russen zurückzudrängen. Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg wurden die Lebensmittel rationiert, es gab eine Verdunkelungspflicht bei Fliegeralarm und wir lernten, wie wir uns bei