Im Land des Feindes. Marthe Cohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marthe Cohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761396
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Es ist doch reine Heuchelei, zu beten, wenn man mit dem Herzen nicht dabei ist.«

      Maman konnte meine Rebellion gegen unsere religiösen Praktiken nur schwer akzeptieren. Kein einziges Ereignis in ihrem Leben, nicht einmal Eugènes Tod, hatte ihren starken, aufrichtigen Glauben je erschüttert. Dass ich meinen infrage stellte, betrübte sie sehr. Trotzdem verlangte sie nie mehr von mir, dass ich betete.

      Auch Großpapa zog es vor, mich gewähren zu lassen. Als er bemerkte, dass Cécile und ich die Tischgebete nicht mehr mitsprachen, sorgte er taktvoll dafür, dass er in diesen Momenten nicht im Zimmer war. Er wollte uns nicht durch seine Anwesenheit dazu nötigen, gegen unser Gewissen zu handeln.

      Zu jener Zeit vollzogen sich in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen. In Italien hatten Mussolini und die Faschisten die Macht ergriffen. Deutsche Truppen waren ins französische Rheinland einmarschiert. In England starb König Georg V. In Spanien herrschte Bürgerkrieg. In Berlin gewann der schwarze US-amerikanische Leichtathlet Jesse Owens bei den Olympischen Sommerspielen vier Goldmedaillen und musste sich von Adolf Hitler öffentlich demütigen lassen. In Frankreich betrat der Weltkriegsveteran Oberstleutnant François de La Rocque mit seiner rechtsextremen, ultranationalistischen Organisation Croix de Feu die politische Bühne. De La Rocque verstand es, die Massen zu mobilisieren. Unter seinem Einfluss kam es zu schweren Unruhen, die den Rücktritt der linksgerichteten Regierung zur Folge hatten. Je unverhohlener sich Politiker und Kriegstreiber zur Judenfrage äußerten, desto mehr Gehör fanden sie beim einfachen Volk. Durch fanatische Demagogen aufgestachelt, fühlte sich der Mann auf der Straße in seinen Ressentiments bestätigt. Als der jüdische Sozialist Léon Blum Premierminister wurde, führte dies zu weiteren Ausschreitungen. Mittlerweile trat der Antisemitismus in Frankreich offen zutage. Es wurden Forderungen laut, Juden von öffentlichen Ämtern auszuschließen, so wie es in Deutschland bereits der Fall war. Diese Entwicklungen machten mir Angst, ebenso die wachsende Bedrohung durch Hitler und die Nationalsozialisten. Dennoch hielt ich an meiner pazifistischen Haltung fest.

      »Krieg ist keine Lösung«, erklärte ich großspurig. »Die Politiker sollten sich zusammensetzen und miteinander reden. Kriege bringen nichts als Tod und Zerstörung. Es muss eine Alternative geben.«

      Fred und Arnold waren da anderer Meinung. »Hitler muss aufgehalten werden und zwar schnell. Du verstehst das nicht, Marthe. Du hast den letzten Krieg nicht miterlebt.«

      Trotz seiner ausgezeichneten Leistungen war Fred mit siebzehn von der Schule abgegangen, um in Antwerpen eine Ausbildung zum Diamantenhändler zu machen. Als jedoch die Diamantenindustrie infolge der Weltwirtschaftskrise einbrach, zog er nach Nancy, wo er die Schneiderwerkstatt meines Onkels Henri übernahm. Mein Bruder Arnold folgte bald nach und fing bei ihm als Zuschneider an. Jeden Sonntag kam Fred mit dem Zug nach Metz, nur um uns Mädchen abends auszuführen. Mein Vater hätte uns niemals allein vor die Tür gelassen. Sophie und meine anderen Freundinnen waren furchtbar neidisch auf uns. Fred war der vollendete Kavalier: Er lüftete den Hut zur Begrüßung und behandelte uns wie richtige Damen. Ich vergötterte ihn geradezu und war jedes Mal kreuzunglücklich, wenn er wieder wegfuhr.

      Auf dem Gymnasium langweilte ich mich entsetzlich. Durch die Romane von Zola, Balzac, Dumas, Tolstoi, Jules Verne und Jack London inspiriert, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als von der Schule abzugehen und die Welt zu sehen, ehe es zu spät war. Meine Zukunftspläne waren allerdings reichlich unausgegoren. Mal träumte ich von einer Karriere als Anwältin, dann wollte ich Pilotin werden, obwohl ich so klein war, dass ich mit meinen Füßen kaum die Pedale erreicht hätte. Mit siebzehn war ich ausgewachsen und brachte es auf gerade mal 1,50 Meter. Ich war erheblich kleiner als meine Geschwister. Selbst meine Mutter mit ihren 1,57 Meter überragte mich. »Ich werde niemals einen kleinen Mann heiraten«, sagte ich einmal zu ihr. »Ich will schließlich keine Zwerge zur Welt bringen.«

      Maman schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie kommst du nur auf solche Gedanken, Marthe?«

      1937 verabschiedete ich mich freudestrahlend von meinen Lehrerinnen, um bei Cécile Modes anzufangen, dem Hutsalon meiner Schwester, der sich im Zentrum von Metz, am Place de la République befand. Mir hatte zwar nie eine Laufbahn als Modistin vorgeschwebt, aber ich war froh, endlich den Zwängen des öffentlichen Erziehungswesens zu entkommen. Alle fanden, dass Cécile wunderschöne Hüte machte. Es waren raffinierte Kreationen für junge und jung gebliebene Frauen. Ich besitze immer noch ein Foto, auf dem Cécile, meine Freundin Sophie, ihre Schwester Regine und ich Céciles Modelle tragen. Damals führten wir ein rundum sorgloses Leben. Erst rückblickend erkenne ich, wie großherzig es von Cécile war, mich einzustellen. Ich war so ungeschickt, dass ich mehr als einen Hut ruinierte. Einmal hätte ich fast das ganze Atelier in Brand gesetzt, weil ich abends vergaß, das elektrische Bügeleisen auszuschalten. Es brannte über Nacht ein riesiges Loch in unseren Arbeitstisch. Aber Cécile hatte eine Engelsgeduld mit mir und war nie böse auf mich. Sie wusste wohl, dass es schlimmere Dinge auf der Welt gab, über die man sich aufregen konnte.

      Im Sommer 1938 fuhr ich mit Stéphanie, Rosy, Hélène, Sophie und ein paar Freundinnen in ein Ferienlager im Vallée de Chevreuse nicht weit von Paris. Wir waren dort schon einmal mit unseren Eltern gewesen, aber diesmal waren wir alt genug, um allein verreisen zu dürfen. Wir verbrachten herrliche Wochen mit Schwimmen, Radfahren, Spielen und Herumalbern. Ich besitze noch einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen wir ausgelassen vor der Kamera posieren. Niemand ahnte, dass mit diesen unbeschwerten Sommertagen unsere Jugend zu Ende gehen sollte.

      Im Oktober desselben Jahres marschierten deutsche Truppen in die Tschechoslowakei ein. Einen Monat später begann für die Juden Deutschlands – die bereits zahllose persönliche Einschränkungen wie soziale Ausgrenzung und Ausgangssperren hinnehmen mussten – ein Martyrium ohnegleichen, während die große Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung tatenlos zusah. Die von der Regierung inszenierte Reichskristallnacht markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen »Judenpolitik«. Hunderte von Synagogen wurden in Brand gesteckt und Tausende jüdischer Geschäfte verwüstet. Horden junger Braunhemden zogen randalierend durch die Städte und zertrümmerten systematisch die Schaufenster jüdischer Läden. Zahllose Juden wurden festgenommen oder auf offener Straße niedergeschlagen; einundneunzig von ihnen starben.

      Wir waren schockiert, als wir von diesen Ereignissen erfuhren. Wir hatten Verwandte in Düsseldorf, die Färbers. Cécile Färber, die Nichte meines Vaters, erwartete ihr drittes Kind. In der Kristallnacht stand die Gestapo vor der Tür und wollte Céciles Mann verhaften. Sie demolierten die gesamte Einrichtung, zerschlugen die Fenster und bedrohten die Familie. Irgendwie gelang es Cécile, sie davon abzubringen, ihren Mann festzunehmen. Noch in derselben Nacht floh er nach Holland, während sie sich bis zur Geburt ihrer Tochter Mindele bei ihrem Dienstmädchen versteckte. Dann folgte sie ihm nach. Später gingen sie nach Palästina und ließen Mindele in der Obhut holländischer Verwandter zurück. Ihre beiden Söhne, den zweijährigen Josie und den dreijährigen Jacquie, schickten sie zu uns. Fred und Cécile fuhren mit der Bahn bis zur Grenze, wo sie die beiden Jungen in Empfang nahmen. Das mutige Dienstmädchen hatte die Kinder bis dorthin begleitet. Sie alle riskierten es, von deutschen Grenzposten verhaftet zu werden, aber sie sahen es als ihre Pflicht an, zu helfen. Ein paar Tage später brachten wir Josie zu Tante Hélène, einer älteren Schwester meines Vaters, nach Nancy. Jacquie blieb bei uns. Die übrige in Deutschland lebende Familie meines Vaters – darunter seine ältere Schwester Feigel, ihr Mann und ihre jüngste Tochter Berthe – wurde verhaftet und nach Polen deportiert. Sie kehrten nie mehr zurück.

      Als der dreijährige Jacquie, der kein Wort Französisch sprach, bei uns eintraf, war er völlig verstört. Er sah uns mit großen Augen an und sagte kein Wort. Doch als sein Blick auf meine damals vierzehnjährige Schwester Hélène fiel, fing er an zu strahlen. Er schloss sie sofort ins Herz und wich ihr nicht mehr von der Seite. Hélène freute sich, einen kleinen »Bruder« zu haben, mit dem sie spielen konnte, und sie genoss seine Zuwendung. Aber da sie wie Fred eine schelmische Ader hatte, piesackte sie den armen Jacquie oft unerbittlich. Oder sie kommandierte ihn herum. Sie sagte zu ihm, sie habe kalte Hände, worauf er zu ihr rannte, um sie ihr zu wärmen. Oder sie bat ihn, ihr etwas zum Anziehen zu bringen. Doch wenn sie sich mit ihm beschäftigte, hatte sie eine unendliche Geduld, um die ich sie heimlich beneidete. Wir alle wussten, dass Jacquie seine Familie lange Zeit nicht wiedersehen würde – möglicherweise