Durch Stehenbleiben vorwärtskommen
„Sie kann es! Andi, seit heute kann sie es wirklich! Unsere Motte ist tatsächlich zum ersten Mal alleine Fahrrad gefahren!“ Ich stehe im Wohnzimmer vor Andis Bild und erzähle mit stolzer Stimme von dem großen Ereignis des heutigen Nachmittags.
Dem Schockzustand nach der Krebsdiagnose konnten sowohl Andi als auch ich relativ zügig entkommen. Ganz anders war es zehn Monate später. Es dauerte sehr lange, bis ich es nach dem Tod meines Mannes geschafft habe, wirklich wahrzunehmen, dass er nicht mehr da ist und dass sich diese Situation auch nicht mehr ändern wird. Eine Zeit des Ausblendens, des Haderns, des Sich-dagegen-Wehrens – eine gewisse Atempause, eben ein Stillstand – waren vorneweg zwingend notwendig gewesen, und diese Zeit habe ich mir unbewusst auch genommen. Es vergingen Wochen, vielleicht auch Monate. Doch mit einem Mal habe ich gemerkt, dass ich ihm trotz allem noch mehr zu sagen hatte als den Satz: „Andi, das geht nicht.“ Ich habe gelernt hinzusehen, denn meine Hast, das Dagegen-Ankämpfen und der verzweifelte Satz, den ich seinem Bild lange Zeit zuflüsterte, halfen mir kein Stück weiter und verbesserten überhaupt nichts. Wirklich gar nichts. Weder meine Ängste vor dem Alleinsein, vor der Verantwortung als Alleinerziehende noch meine Angst vor der Zukunft. Doch diesen Ängsten musste ich mich irgendwann stellen, das hatte ich auf einmal begriffen.
Und deshalb blieb ich eines Tages vor dem Foto stehen und schaute ihn erstmals wieder länger als nur eine Sekunde im Vorbeirennen an. Das war alles andere als leicht. Aber ab dem Moment, als ich ihn wieder richtig ansehen konnte, war es möglich, meine Trauer zuzulassen und mich meinen Ängsten zu stellen. Ich teilte meine Sorgen und die Verzweiflung mit ihm, aber auch die schönen Momente, beispielsweise das Fahrradfahren, auch wenn dabei eine große Traurigkeit mitschwang. Gerne hätte ich es Svenjas Papa überlassen, ihr das Radfahren beizubringen, oder wäre noch lieber zusammen mit ihm aufgeregt und jubelnd hinter dem Fahrrad unserer Tochter hergesprungen.
Ich war also mit einem Mal bereit, stehen zu bleiben, um mich gleichzeitig mit dieser Geste wieder vorwärtszubewegen. Meine Kraft wurde nun anders eingesetzt. Ich hatte Initiative ergriffen und hatte das Gefühl, den Stillstand und das Ignorieren durchbrochen zu haben. Ich war in der grausamen Realität angekommen. Den Albtraum gab es immer noch, doch anders als zuvor sah ich ihm nun in die Augen. Die Bedrohung, die ich bereits am ersten Tag im dunklen Gang der Augenklinik wahrgenommen hatte, war Wirklichkeit geworden. Gleichzeitig barg das Foto meines Mannes eine gewisse Vertrautheit und mit meinen diversen Dialogen brachte ich ihn wieder ein kleines Stückchen zurück in mein Leben. Das stärkte mich, und die Richtung, in die ich blickte, war plötzlich eine andere geworden. Ich hatte mich entschieden hinzusehen, den Schmerz in voller Bandbreite zuzulassen, wieder vorwärtszugehen, wenn ich auch noch überhaupt keine Ahnung hatte, wie dieser Weg ohne ihn aussehen soll.
KAPITEL 2 Der Mann vom TÜV
Wie wichtig es ist, die richtige Sprache zu finden
„Wieso können wir nicht gleich ins Freibad fahren?“ Die Stimme meiner vierjährigen Tochter klingt wenig verständnisvoll für mein heutiges Vorhaben und auch ich kämpfe mit meinem Pflichtgefühl, als ich den wolkenlosen Juli-Himmel über mir betrachte. Doch die blauen Fahnen des TÜV-Gebäudes sind bereits in Sicht. Das Auto fährt ruhig durch die letzte Kurve und ich atme innerlich auf, als ich weder ein ungewöhnliches Quietschen noch ein Klappern vernehme. Wir haben Glück. Bahn 3 ist leer und wir können uns ganz vorne einreihen.
Wenige Minuten später öffnet sich vor uns das große Rolltor. Ein älterer Mechaniker in blauer Montur weist uns freundlich ein. Scheinwerfer, Blinker, Bremslicht. Das Spiel beginnt und ich führe alle Anweisungen auf Zuruf meines Gegenübers aus. Auf dem Rücksitz ist es schlagartig still geworden. Die hallenden Geräusche, der ölige Werkstattgeruch und mein Hebel- und Knöpfchendrücken nehmen Svenja voll und ganz gefangen. Die Beleuchtung ist rasch geprüft. Wir klettern aus dem Wagen.
„Na, dann schauen wir mal, ob mit dem Auto von Papa und Mama alles in Ordnung ist.“ Der Mechaniker lächelt meine Tochter an und geht Richtung Autotür. Gar nicht mal unfreundlich fügt er noch hinzu: „Hat der Papa lieber mal die Mama geschickt?“, und zwinkert Svenja verschmitzt mit den Augen zu.
Ich hole tief Luft und überlege, ob ich darauf eingehen soll. Doch schon sagt Svenja ganz unverkrampft: „Das ist doch das Auto von der Mama. Mein Papa ist im Himmel, da braucht er keins mehr.“
Noch in der Bewegung hält der Mechaniker inne und sieht Svenja an. Seine Gesichtszüge entgleisen. Doch Svenjas Aufmerksamkeit ist längst auf den benachbarten Prüfstand gerichtet, von dem aus die Hupe eines Wohnmobils ertönt. Sie hat ja nur etwas klargestellt, was nicht ganz richtig war. Fall erledigt. Doch für den Mann vom TÜV ganz und gar nicht. „Sicherheit geprüft“ – das Logo auf seiner blauen Jacke sticht mir ins Auge. Doch bei diesem Herrn ist keine Spur mehr von Sicherheit zu erkennen. Fassungslos starrt er mich an und registriert peinlich berührt mein bestätigendes Nicken. Das Klischee „Ehefrau wird vom Mann zum TÜV geschickt“ trifft bei mir unerwarteter Weise nicht zu.
„Entschuldigung“, murmelt er in meine Richtung und verschwindet schnell im Innenraum meines Fahrzeuges. Die Elektronik sowie die diversen Lämpchen über dem Lenkrad werden auffallend lange und sorgfältig geprüft.
In den folgenden Minuten wagt der Mann kaum, mich anzuschauen. Jedem Blickkontakt weicht er aus, auch mit Svenja schäkert er nicht mehr herum. Es ist, als hätte er seine Zunge verschluckt.
Erst als die Plakette schon am Nummernschild klebt, sagt der Mechaniker zu meiner Tochter, die gerade einsteigen will: „Moment noch. Komm mal mit.“ Und schon sind beide auf dem Weg in Richtung Büro. Es dauert eine ganze Weile, bis ich das rosa T-Shirt meiner Tochter erneut aufleuchten sehe. „Mama, schau mal.“ Freudestrahlend stürmt sie auf mich zu und hält in beiden Händen je ein blaues Windrädchen. Zusätzlich steckt in jeder Faust eine kleine Tüte Gummibärchen, von deren Inhalt bereits ein Großteil in ihrem Mund verschwunden ist. Doch auch der Mann vom TÜV kommt nicht mit leeren Händen. Ungefähr zwanzig weitere Tütchen steckt er mir lächelnd zum Abschied zu. Nur mit Mühe findet er ein paar Worte: „Als Proviant. Gute Fahrt Ihnen beiden!“
So etwas passiert uns nicht
Je stärker und erschütternder ein Schicksalsschlag ist, desto weniger können wir das Geschehen in Sätze fassen. Es fehlen die Worte, um die Wahrheit, aber auch Anteilnahme und Entsetzen auszudrücken. Wir haben keine Stimme mehr.
Als ich erfuhr, dass die Ärzte bei meinem Mann Krebs vermuteten, fühlte ich mich von einem Moment auf den nächsten wie gefangen in einem Albtraum. „Das kann nicht wahr sein. Die Ärzte müssen sich irren.“ Mehr Gedanken ließ ich anfangs nicht zu. Doch Ärzte irren sich nur selten.
Sprachlosigkeit heißt nicht, dass einem alle Worte fehlen. Im Gegenteil. Es werden nur nicht die richtigen Worte genutzt. Die Worte, die die Realität klar und deutlich beschreiben. Das Wort Krebs beispielsweise hat viele Verwandte. Da ist die Rede von Knoten, Gewächs, Verhärtung, Wucherung, Geschwulst, Geschwür oder Furunkel, um nur einige zu nennen. Das kann alles Mögliche bedeuten – oder auch nichts. Doch das, was mein Mann hatte, war bösartig, ein maligner Tumor. Krebs.
K-R-E-B-S. Auch wenn es völlig verschiedene Arten, Therapien und Überlebenschancen gibt – dieses Wort ist eindeutig. Es bringt die Realität auf den Punkt.
Die gleiche kreative Sprachlosigkeit zeigt sich bei dem Wort Tod. Wer in der Zeitung aufmerksam die Todesanzeigen liest, erhält eine Fülle an Ideen, wie der Tod umschrieben werden kann. Da ist die Rede von heimgehen, entschlafen, ableben, dahinscheiden, verlassen, doch immer weniger von tot sein. Auch bei einem Menschen mit einer Behinderung versucht man sein Handicap mit „Der ist anders“ zu umschreiben, anstatt konkret zu sagen, was genau eigentlich anders ist. Und wenn ein Paar sich trennt, dann sagen sie nicht: „Wir sind gescheitert, unsere Beziehung ist am Ende.“ Sondern sie streuen sich