Einen Tag später fasse ich mir ein Herz. Ich kann Svenja nicht tagelang im Glauben lassen, dass Andi weiterhin im Krankenhaus liegt. Sie merkt, dass irgendetwas vorgefallen ist. Um sie herum herrscht Traurigkeit, die sie nicht greifen kann. Trotz ihrer knappen zwei Jahre spürt sie die Veränderung. „Der Papa ist nicht mehr im Krankenhaus. Er ist gestern gestorben und hat nun keine Schmerzen mehr.“ Ich wähle ganz bewusst das Wort „gestorben“. Auch das Wort „tot“ erwähne ich in meinen weiteren Erklärungen. Sie soll es einmal gehört haben. Und zwar in Verbindung mit ihrem Papa. Und von mir.
Wie ich erwartet habe, erhalte ich in kleinkindlicher Sprache die Antwort: „Und wann kommt er wieder?“ Auch das beantworte ich ehrlich: „Wir können ihn leider nicht wiedersehen.“ Auch wenn diese Worte für die Vorstellungskraft eines kleinen Mädchens zu viel sind. Sie sind ehrlich. Wichtig ist, dass sie gesagt wurden. Glauben kann ich sie selbst noch nicht. Auch unser Kind muss erst begreifen lernen. Wichtig für sie ist, dass er nicht einfach eingeschlafen ist, wie das jeder Mensch abends tut. Eben auch die Mama. Diese Angst muss ich ihr im Vorfeld nehmen. „Papa ist gestorben.“ Die Worte faszinieren sie. Das neue Wort erzeugt ungeheure Emotionen und Aufmerksamkeit bei jedem Gegenüber. Das merkt sie, obwohl sie den Satz kaum sprechen kann. Er hat sich in ihrem kleinen Köpfchen eingebrannt und fällt die nächsten Wochen mehrfach am Tag.
Diese Tage beschreiben den Tiefpunkt meines Lebens. Doch auch wenn es mir damals noch nicht klar war: Dieses Gespräch war ein Wendepunkt, denn es beweist, dass aus klaren, wahren Worten Kraft und Stärke entstehen können. Jedes neue Gespräch, das ich heute in dieser Direktheit und Offenheit führe, bestärkt mich auf meinem Kurs. Die ehrlichen Worte haben meiner Tochter gutgetan. Sie haben sie gestärkt und selbstbewusst gemacht. Sie hat keine Scheu davor, ihren Papa zu erwähnen, genauso wenig seinen Tod. Und heute erleben wir, dass wir ihn auch in fröhliche Situationen verbal einbinden können, denn das Reden über ihn ist eine Selbstverständlichkeit geworden.
Die Fragen, mit denen Svenja mich immer wieder aufs Neue aus dem Konzept bringt, zeigen mir, dass sie von mir gelernt hat. Unsere Worte machen uns stark, egal mit was oder wem wir konfrontiert werden, und so wehren wir uns gegen das Ausgeliefertsein. Wir nutzen unsere Stimme. Sie löst kein Problem, aber verändert den persönlichen Zustand. Wir treten der Unsicherheit entgegen und benennen das Unfassbare.
Gespräche verleihen die Stärke, die nötig ist, um sich mit schwierigen Situationen besser auseinandersetzen zu können. Wir erhalten die Möglichkeit, das Leben, den Alltag und die eigenen Gefühle wieder aktiv zu gestalten. Wir können konkret sagen, ob es uns gerade gut geht oder eben nicht, ob wir Hilfe oder einfach einen Zuhörer brauchen. Dieser Dialog, der nicht nur an der Oberfläche geführt wird, verbindet uns mit Menschen. Ich habe diese Erfahrung immer wieder gemacht. Erstaunlicherweise sind es nicht unbedingt die engsten Freunde oder nächsten Verwandten, mit denen man die intensivsten Gespräche führt. Bis heute überraschen mich Menschen, die ich teilweise kaum kenne, mit Mut, ehrlichem Interesse, Mitgefühl und der Fähigkeit, dafür klare Worte zu finden. Dagegen gibt es einige Bekannte, Kollegen oder Nachbarn, die mir seit Jahren regelmäßig begegnen, mit denen ich jedoch noch nie ein persönliches Wort über Krankheit oder den Todesfall gewechselt habe.
Oft denke ich an den sprachlosen Mann vom TÜV, denn er ist zum einen ein Beispiel für die Sprachlosigkeit unserer Gesellschaft und er hat mir auch vor Augen geführt, wie sehr ich selbst mich verändert habe. Früher hätte ich vermutlich auch nicht gewusst, was ich in einer solchen Situation sagen sollte. Heute weiß ich, wie gut es tut, wenn wir das Schweigen brechen und auf den Trauernden zugehen.
KAPITEL 3 In der Fremde
Nur zusammen ist man weniger allein
Nach dem Bestrahlungstermin am Vormittag bin ich heute bereits zum zweiten Mal auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich ziehe die schwere Eingangstür auf und fahre mit dem Aufzug in den zweiten Stock des Altbaus. Wieder einmal nimmt mich der typische Geruch dieser Station gefangen. Die Mischung aus altem Gemäuer, Desinfektionsmitteln und kranken Menschen ist mir unangenehm und wirkt auf mich regelrecht beklemmend. Ich laufe den Flur entlang bis ganz ans Ende. Meine Absätze klappern leise. Ansonsten ist es still. Ein Pfleger biegt um die Ecke. Ich kenne ihn. „Kann ich Sie kurz sprechen?“, fragt er mich. Erstaunt und sofort voller Angst bleibe ich stehen.
„Es ist etwas passiert“, hämmert es in meinem Kopf. Andi befindet sich in diesen Tagen immer noch in einer Art Krise und man hofft, dass die Bestrahlung endlich Wirkung zeigt. Zusätzlich wird er mit einer Tabletten-Chemo gequält, von der es ihm richtig elend geht. „Ihr Mann verweigert sich und spricht nicht mit uns“, beginnt er und sein Tonfall lässt klar erkennen, dass er das weder verstehen noch akzeptieren will. „Wie bitte?“ Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Er antwortet kaum, nimmt weder seine Tabletten noch isst er richtig.“ Der Pfleger hat sich mittlerweile vor mir aufgebaut und vermittelt den Eindruck, als wäre er persönlich gekränkt worden. „Meinem Mann ist es furchtbar übel von der Chemo und …“ „Dann soll er halt etwas sagen, dafür gibt es Tabletten“, fällt er mir ins Wort. Langsam werde ich wütend. „Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?“
Vor einer Woche konfrontierte uns der Arzt mit der Nachricht, dass die letzte, vielversprechende autologe Stammzelltransplantation erfolglos war. Bei dieser Transplantation werden den Krebspatienten eigene Blutstammzellen entnommen und anschließend wird ihnen eine Hochdosis-Chemotherapie verabreicht, bei der alle blutbildenden Zellen im Körper vernichtet werden. Andis Krebszellen aber sind zäh. Die Therapie hat sie nicht zunichtegemacht. Im Gegenteil. Die Tumoren waren nach der bildgebenden Kontrolle sichtlich „am Brennen“ und er musste innerhalb eines Tages im Bestrahlungszentrum untergebracht werden. Dieser Schock sitzt tief. Sein Handy bleibt seit Tagen ausgeschaltet. Er ist einsilbig und das Lachen ist aus seinem Gesicht verschwunden.
Diese Szene hier im Flur ist grotesk. Wer Andi kennt, der weiß, dass er zu den wenigen Menschen gehört, die mit fast jeder Person auskommen. Er besitzt die Gabe, seinem Gegenüber sofort sympathisch zu sein. Das liegt sicher daran, dass er jeden einfach akzeptiert, wie er ist. Ohne Wenn und Aber. Und nun kommt dieser Pfleger und erzählt mir etwas von unhöflichem Verhalten bei einem seiner Patienten, dem es seelisch und körperlich gerade hundsmiserabel geht. Er mag sicherlich seine Qualitäten besitzen – Einfühlungsvermögen gehört nicht zu seinen Stärken. „Ich kümmere mich darum, dass er ab jetzt regelmäßig seine Tabletten nimmt.“ „Idiot!“, murmele ich leise vor mich hin. Ich lasse den Pfleger stehen und laufe weiter – hinein in den nächsten Flur. Vorbei an einer geschlossenen weißen Tür nach der anderen. Der Gang scheint kein Ende zu nehmen. Meine Wut verraucht langsam. Nun steigt ein anderes, ein bedrückendes Gefühl in mir auf. Ich fühle mich alleingelassen auf dieser Station mit den vielen Zimmern, die alle gleich aussehen. Alleingelassen mit meinem schwer kranken Mann in diesem riesigen Krankenhaus mit seinen über 10 000 Mitarbeitern, von denen mir zumindest einer gerade offiziell seine Solidarität gekündigt hat.
Anders als gestern
Aus der Vogelperspektive betrachtet, erscheint eine Insel im Meer als einzelner Punkt. Ganz klein, regelrecht winzig und weit weg vom Rest der Welt. Abgeschieden. Drumherum nur Wasser, Wind und Wellen. Kein Boot ist in Sicht, keine Brücke, die eine Verbindung zum Festland herstellt.
Menschen, die eine Krise erleben, fühlen sich wie gestrandet auf dieser einsamen Insel. Die Verbindung zur Welt der anderen scheint von einem Moment auf den nächsten komplett unterbrochen. Um sie herum gibt es nur Unbekanntes. Jeder Gestrandete auf so einer Insel fühlt sich unendlich einsam und vollkommen verlassen. Abgeschieden. In der Fremde. Und allein. Dabei kann es durchaus sein, dass sich andere Personen in der Nähe befinden. Auch auf einer kleinen abgelegenen Insel leben vielleicht Einheimische. Die Lage der Gestrandeten ändert das trotzdem nicht. Sie sitzen fest, weit weg von zu Hause, in einer ungewohnten