Noch einen Tag, bevor mein Mann erste Beschwerden hatte, hielten wir unser Leben für leicht, unbeschwert und mal abgesehen von banalen Alltagsproblemchen für sorgenfrei. Wir hatten keinerlei Vorstellung von dem, was noch auf uns zukommen sollte. Wie auch? Krisen gibt es. Klar, das wussten auch wir. Doch weder Geschichten aus dem Bekanntenkreis, den Nachrichten, der Tageszeitung noch Erzählungen von Kollegen brachten uns früher zum Nachdenken. Ich bereue das im Nachhinein nicht. Im Gegenteil. Ich denke, wir unterschieden uns da kaum von vielen anderen in unserem Umfeld. Sich schlimme Szenarien auszudenken, hilft einfach nicht weiter. Genauso wenig kann man allen lauernden Gefahren ausweichen. Sämtliche Verkehrsmittel wie Auto, Zug oder Flugzeug zu umgehen, um einen Unfall zu vermeiden, ist in der heutigen Zeit nicht praktikabel. Sich vorsorglich ständig auf neue Arbeitsstellen zu bewerben, um einer eventuellen Arbeitslosigkeit zu entrinnen, macht einfach keinen Sinn. Eine Vorbereitung auf einen Schicksalsschlag ist und bleibt unmöglich. Er kommt immer überraschend.
Heute beneide ich diejenigen, die diese Sorglosigkeit noch verspüren und ihr Leben mit der festen Überzeugung leben, dass schon nichts passieren wird. Die nach vorne sehen und die nächsten zehn Jahre ohne große Stolpersteine vor Augen haben. Keiner weiß, was kommt. Doch leider bin ich mittlerweile einen Schritt voraus und werde diese schöne, beruhigende Naivität und Arglosigkeit deshalb niemals mehr einfangen können.
Aber genau diese Arglosigkeit ist es, die einen zur Salzsäule erstarren lässt, wenn das Schicksal von heute auf morgen zuschlägt. Die Gutgläubigkeit, dass schon alles gut gehen wird, und die Sorglosigkeit, die bis gestern noch vorhanden war. Doch auf einmal gelten diese Grundsätze nicht mehr. Ein Schock. Urplötzlich herrschen andere Emotionen: Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit führen das Regiment und lassen Betroffene kaum einen klaren Gedanken fassen. Zudem sind die neuen Tatsachen fernab aller Vorstellungskraft, sie kommen so überraschend, sind grausam und anders als alles zuvor Dagewesene, dass Menschen in Krisen im ersten Moment nicht anders können, als abzuriegeln und alles von sich zu weisen: Die Diagnose kann nicht stimmen, der Arzt muss sich irren. Mein Mann wird bestimmt wieder gesund, so früh darf man nicht sterben. Mein Partner will sich bestimmt nicht endgültig von mir trennen, sondern überlegt es sich noch mal. Es werden Stellen abgebaut, aber mich trifft es mit dem Arbeitsplatzverlust bestimmt nicht. Die Flut kann unser Haus nicht treffen, vielleicht die anderen, aber unseres sicher nicht. Nein. Nein. Nein! Das kann alles nicht wahr sein. Das geht einfach nicht.
Ich weiß noch, dass Andi an dem Abend, als er zum ersten Mal Doppelbilder wahrnahm, unser Gesundheitsbuch aus dem Bücherregal zog und ausgestreckt auf dem Fußboden darin zu blättern begann. Es gab in dem Ratgeber ein Diagramm, bei dem Symptome abgefragt wurden. Er las laut vor und wir verfolgten quasi seine Spur. Bereits dort gab es einen Pfeil in Richtung Hirntumor, natürlich mit dem Hinweis, bei dieser Symptomatik zur Abklärung zum Arzt zu gehen. Doch für uns beide war das so weit hergeholt, schrecklich und absolut unvorstellbar, dass wir uns ansahen und einstimmig beschlossen: „So ein Quatsch. Jetzt lassen wir die Kirche mal im Dorf“, und Andi das Buch zuklappte und es zurück ins Regal stellte. Doch aus Quatsch wurde Ernst. Bitterernst. Denn zwei Wochen später lautete seine Diagnose: Lymphome im Gehirn, also ein Hirntumor.
Menschen, die mit einem Schicksalsschlag konfrontiert werden, versuchen ihn zu ignorieren und schieben die furchtbare Realität beiseite: Ich kann das nicht ertragen! Ich halte das nicht aus! Diese Gedanken rücken sofort in den Vordergrund. Betroffene fühlen sich nicht in der Lage, die heftigen Auswirkungen einer Krise zu stemmen. Sie fühlen sich zu schwach, um die Unordnung in ihr Leben eindringen zu lassen. Sie wollen wieder zurück zu Stabilität und Sicherheit. Zurück zu vertrauten Dingen. Genau deshalb wird das Schlimme einfach verdrängt. Die Realität ausgeblendet. Einem schwer verletzten Unfallopfer kommen Gedanken wie: Ich gebe die Funktion meiner Beine nicht auf! Das wird besser. Wie soll ich denn mit einem Rollstuhl zurechtkommen? Ich bin völlig ungeschickt. Ich kann das nicht. Und die Blicke, die Rollstuhlfahrer kassieren, ertrage ich sowieso nicht. Ich werde wieder laufen können.
Doch kommt man mit einer Vogel-Strauß-Mentalität vorwärts? Einfach, in Bildern gesprochen, den Kopf in den Sand stecken und so tun, als wäre bald wieder alles gut und beim Alten? Sicher nicht. Es ist genau andersherum: Wer sich der Realität verweigert, der schlägt einen Weg ein, der die Situation zusätzlich noch verschlimmert.
In unser Wohnzimmer hängte ich direkt nach der Beerdigung ein Bild von meinem Mann, das wir während der Trauerfeier in der Aussegnungshalle aufgestellt hatten. Dieses Bild war recht groß und hing direkt neben der Küche. Es war also ein Platz, an dem ich sehr häufig vorbeimusste. Doch stehen blieb ich selten davor. Das Einzige, was ich ihm wochenlang gedanklich oder verbal entgegenschleuderte, sooft ich auch daran vorbeikam, waren die Worte: „Andi, das geht nicht!“ Zu mehr Gedanken war ich nicht in der Lage, mehr hätte mich restlos überfordert. Ich konnte und wollte seinen Tod nicht akzeptieren. Ich war darauf nicht vorbereitet, sein Sterben hatte mich eiskalt erwischt. Genauso wenig wollte ich wahrhaben, dass er mich alleingelassen hat, ohne Schuld zweifellos, und trotzdem war es so. Nach zwölf Jahren Beziehung, einem gemeinsamen Kind und zehn schrecklichen kräftezehrenden Krankheitsmonaten wollte ich das alles nicht glauben. Der Schmerz saß so tief, dass das Nachdenken darüber jedes Mal eine neue Welle des Leidens auslöste. Und deshalb schob ich es einfach beiseite. Ich war innerlich erstarrt, gerade noch dazu in der Lage, mein Kind zu versorgen. Mehr war erst mal nicht möglich. Doch das konnte kein Dauerzustand werden. Das wurde mir recht schnell klar.
Welche Auswirkungen hat denn ein permanentes Ignorieren und Schönreden? Das Wegschieben der Realität, die Betroffene einfach nicht wahrhaben wollen? Dieses Verhalten kostet Kraft. Und zwar jede Menge. Denn hier versuchen wir, etwas aufrechtzuerhalten, was es nicht mehr gibt.
Zusätzlich zum Ausblenden der Realität lauert noch eine weitere Gefahr, die in einer Krise einen unheimlichen Kräfteverlust birgt. Die Frage nach dem Warum: Warum hatte ich diesen schrecklichen Verkehrsunfall? Warum nur ist mein Mann so schwer erkrankt? Warum habe ich meinen Job verloren und nicht der Kollege ohne Familie? Warum ist unsere Beziehung gescheitert, obwohl jahrelang alles gut lief? Wieso nur muss mir das passieren? Was habe ich getan, dass das Leben mir so viel abverlangt?
Es ist ganz natürlich, dass diese Fragen anfangs gestellt werden. Sie schaffen eine gewisse Erleichterung und jeder Betroffene kennt sie. Trotzdem ist es wichtig, nicht an diesen Sätzen hängen zu bleiben. Denn die Situation ändert sich dadurch nicht. Ganz im Gegenteil. Gelöst hat diese Fragen kaum einer. Es gibt oft keine Antworten, so sehr wir auch danach suchen. Und selbst wenn sich eine Erklärung findet, hilft das trotzdem nicht weiter. Ändert sich denn die Lage für einen gekündigten Arbeitnehmer, wenn er die Beweggründe seines früheren Chefs genau nachvollziehen kann? Schlichtweg nein. Er ist und bleibt arbeitslos und muss sich einen neuen Job suchen.
Sich gegen die Krisensituation aufzulehnen, sie zu ignorieren, anzuzweifeln, zu hadern oder sich Dinge schönzureden ist eine absolut normale Erstreaktion, die der Schock des Schicksalsschlags mit sich bringt. Doch diese Verhaltensweisen führen nicht weiter. Dabei ist das Vorankommen in einer Krise unheimlich wichtig. Und dafür braucht es Kraft!
Die Welt dreht sich von einer Minute auf die andere für Betroffene und Nahestehende völlig anders. Den Tagesablauf von gestern gibt es nicht mehr. Von heute auf morgen gibt es neue Wege, die vor einem liegen und enorme Herausforderungen bergen, die der Einzelne kaum bewältigen kann: Ein Arbeitsloser muss die Schwelle zum Arbeitsamt übertreten. Weder Gebäude noch Menschen sind ihm