Ich möchte ihn nicht töten müssen, aber ihn einfach gehen zu lassen kommt auch nicht infrage.
„Hallo?“
Ich blicke Katharina fragend an.
„Wo zum Teufel warst du denn?“
Ich nehme sie am linken Arm und ziehe sie zur Seite. „Roakans Frage ist gut. Wir können ihn nicht einfach gehen lassen!“
„Ich weiß.“
„Würdest du ihn töten wollen?“
„Ungern, aber wenn es sein muss ...“
„Das hätte aber wiederum vermutlich zur Folge, dass man intensiv nach uns suchen würde. Er scheint wichtig zu sein.“
„Ist mir auch klar. Es ist ein Problem, das wir irgendwie lösen müssen. Aber nicht jetzt.“
„Und was antworte ich ihm? Er schaut bereits ziemlich besorgt drein.“
„Er ist ja nicht blöd und kann sich vorstellen, dass wir nicht ohne Grund so lange über die Antwort nachdenken.“
Ich kaue kurz auf meiner Unterlippe herum, dann trete ich vor Roakan.
„Hör zu, ich will dich nicht anlügen. Wir können dich nicht einfach so gehen lassen, dazu weißt du zu viel über uns.“
„Ihr wollt mich töten?!“
„Nur wenn du uns keine andere Wahl lässt.“
„Ich tue doch, was ihr wollt!“
„Weil du nicht sterben willst. Okay, pass auf. Ich will ehrlich zu dir sein, vielleicht ist das der beste Weg. Dass wir von dieser Welt keine Ahnung haben, hast du ja gemerkt.“
Er nickt düster.
„Ich werde dir nicht erzählen, wer wir sind und wo wir herkommen. Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Besser für dich, vor allem. Wir sind auch nicht wirklich freiwillig hier und möchten eigentlich niemandem schaden. Aber dir sollte bewusst sein, dass wir alle schon mal Menschen getötet haben. Auch mit den eigenen Händen und haben dabei den Sterbenden bis zum Ende in die Augen geschaut.“
Roakan schluckt, während ich ihn anstarre. Ob Loiker das wirklich schon getan hat, weiß ich eigentlich gar nicht, aber das spielt keine Rolle. Katharina hat es mit Sicherheit getan und ich auf jeden Fall. Ich denke an den Zauberer, der für Askans Tod maßgeblich verantwortlich war und den ich erwürgt und dabei beobachtet habe, wie das Leben förmlich aus ihm wich.
Ich zucke zusammen, als Katharina mich von hinten berührt. „Fiona ...“
Ich greife über meine Schulter und nehme ihre Hand. „Schon gut. Ich habe mich nur an etwas erinnert. Also, Roakan, eigentlich wollte ich dir nur deutlich machen, dass es eine ganz, ganz schlechte Idee wäre, etwas zu tun, was uns verärgern könnte. Du hast gesehen, auch wenn wir nicht die Götter sind, für die du uns zuerst gehalten hast, haben wir trotzdem Kräfte, die über die Kräfte gewöhnlicher Menschen hinausgehen. Ist dir das klar?“
Er nickt erneut. Ich mustere ihn. Er sitzt vor mir und ist förmlich in sich zusammengesunken, während ich mich über ihn beuge.
Tief durchatmend richte ich mich auf und setze mich neben ihn.
„Ich verspreche dir, dass wir dir nichts tun, wenn du uns hilfst. Ich glaube, die beiden können dir bestätigen, dass ich immer mein Wort halte.“
„Oh ja“, sagt Katharina. „Selbst wenn du dir damit manchmal schadest ...“
„Beispiele?“ Ich sehe sie fragend an, doch sie schüttelt nur den Kopf.
Achselzuckend wende ich mich wieder dem Lustwächter zu. „Also, wie sieht es aus? Erleichterst du uns allen das Leben?“
„Habe ich eine Wahl, wenn ich je meine Familie wiedersehen will?“
„Wie melodramatisch“, bemerkt Katharina.
Was ist denn mit der los?
„Ja, hast du“, antworte ich nach kurzem Zögern. „Je hilfreicher du bist, umso eher sind wir bereit, dich zu verschonen.“
„Was genau meinst du mit hilfreich?“, fragt er misstrauisch. „Soll ich mit euch allen Sex haben?“
Oh mein Gott! Katharina wendet sich prustend ab, Loiker verdreht nur die Augen. Ich starre Roakan entgeistert an.
„Das ist nicht nötig“, erwidere ich schließlich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe. „Um genau zu sein, das tust du auf keinen Fall. Wieso zum Teufel denkst du eigentlich ständig an Sex? Ja, ich weiß, Sex ist in dieser Welt irgendwie besonders wichtig, aber trotzdem!“
„Ohne Sex gebe es uns gar nicht.“
„Schon klar. Künstliche Geburten und so kennt ihr vermutlich nicht.“
„Darum geht es nicht. Die Menschheit wäre ohne Sex nicht überlebensfähig. Sex ist notwendig, damit wir zum Beispiel Strom haben.“
„Hm“, mache ich. „Das hast du schon mal erwähnt, aber ganz verstanden habe ich das nicht. Was meinst du damit?“
„Ist es hilfreich, wenn ich euch das erkläre?“
Der ist ja gar nicht so doof, wie ich zwischendurch mal gedacht habe.
„Sehr sogar!“
Katharina setzt sich neben mich und legt den rechten Arm um meine Schulter. Wir sehen beide den Lustwächter erwartungsvoll an. Loiker vermutlich auch, aber den habe ich nicht im Blickfeld.
„Also gut. Dass beim Sex Energie entsteht, genauer gesagt, beim Orgasmus, die wir speichern können, habe ich schon erwähnt. Diese Energie wird letztendlich Ygok zugeführt und wir bekommen von ihr dafür Strom.“
Ich sehe Katharina an. „Erinnert dich das an irgendwas?“
Sie nickt und gemeinsam blicken wir zu Loiker. Der zuckt die Achseln. „Scheint ein weltenübergreifendes Prinzip zu sein.“
„Ihr kommt aus einer anderen Welt?“, erkundigt sich Roakan mit leuchtenden Augen.
„Das ist kompliziert“, erwidere ich. „Ein einfaches Ja würde nicht ganz die Wahrheit wiedergeben und für die Wahrheit fehlt uns gerade die Zeit. Aber jedenfalls sind wir erst seit Kurzem in dieser Welt und haben keine Ahnung, wie sie funktioniert.“
„Wie sie funktioniert?“
„Na ja, was hier wichtig ist. Sie ist definitiv ganz anders als die, die wir kennen. Ich höre zum ersten Mal in meinem Leben davon, dass Sex direkt oder indirekt zur Stromgewinnung genutzt wird.“
„Aber ihr kennt Sex?“
„Durchaus“, antworte ich lächelnd.
„Zu dritt?“
„Nein. Nicht wirklich. Okay, erzähl uns von … was du vorhin erwähnt hast, diesem Ding, dem die Sexenergie zugeführt wird.“
„Ygok. Aber Ygok ist kein Ding! Ygok lebt in der Decke von jedem Skeg. Sie ist eine Wurzel, die sich durch jeden Skeg zieht.“
„Wurzel?“ Ich muss unwillkürlich an den Erdenbaum denken, und an die Wurzeln, die ich benutzt habe, um mich von Welt zu Welt hangeln. Den Ewigen Turm gibt es in diesem Universum auch, vielleicht sogar die Wurzeln? In unserem alten Universum war der Turm die physische Manifestierung der Weltenübergänge, die Wurzeln existierten aber in der Verborgenen Welt.
Das passt also nicht. Hm.
„Schätzchen, aufwachen!“
Ich starre Katharina an, die mich grinsend ansieht. Kopfschüttelnd wende ich mich dann wieder Roakan zu.
„Also gut, eine Wurzel, die sich durch fast siebzigtausend Skegs zieht?“
Er nickt.
„Gehören