„Ach so“, sagte sie langsam. Sie griff in ihre Ledertasche, um Zeit zu gewinnen, und wühlte darin herum. Sie überlegte fieberhaft, wie sie aus dieser Zwickmühle wieder herauskommen sollte. Da stießen ihre Finger gegen etwas Metallisches, das leise klirrte. Sie zog es heraus. Es war ein rostiger Schlüsselbund.
„Da ist er ja!“ Der Schwarzhaarige griff danach, doch Keyra zog rasch die Hand zurück. Sie bemühte sich um ein Lächeln, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte. „Ich gebe mein Erbe nicht gerne aus der Hand. Schon gar nicht, wenn ich noch gar nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe und ob ihr diejenigen seid, die ihr vorgebt zu sein.“
Verblüfft ließ der Schwarzhaarige die Hand sinken. Für einige Lidschläge herrschte eisige Stille in der Hütte, obwohl es eigentlich frühlingshaft warm war. Dann brach der Räuber in Gelächter aus, und die anderen Männer stimmten mit ein. „Du bist wahrhaftig deines Vaters Tochter. Ich nehme an, der Rote Sepp hätte mir mit seinem langen Messer die Hand abgeschlagen, wenn ich so nach dem Schlüssel gelangt hätte.“
„Dann hast du wohl gerade Glück gehabt – mein Julchen ist mit dem Messer meistens schneller als ich“, warf der Strohblonde ein, der nun ebenfalls grinste.
Der Schwarzhaarige deutete um sich: „Dann will ich dir den Chawwerusch mal vorstellen, Clara. Der Blonde da ist Pfeiffers Basti, der Weiberfeind da drüben ist der Bleiche Fritz. Das dort sind Hennes und Kober, das ist Muck und dort drüben ist Köhlers Pipp – der ist das erste Mal dabei, genau wie Lippes.“ Er wies auf einen Jungen, der wohl sogar jünger als Keyra war, und einen hageren Mann mittleren Alters, der Keyra misstrauisch musterte. „Lippes kommt aus Sulzbach und ist erst seit ein paar Tagen hier. Wir lassen ihn mitmachen, obwohl er kein so wertvolles Gut wie du beisteuert.“
Keyra fiel auf, dass alle Männer, wenn sie vorgestellt wurden, mit Daumen und Zeigefinger ein „C“ bildeten – alle, bis auf Lippes. Der Hagere hatte die Arme verschränkt und zeigte eine verschlossene Miene.
Keyras Finger schlossen sich fester um den Schlüssel. „Und dann bist du natürlich …?“
Der Mann verbeugte sich spöttisch und formte das C. „Man nennt mich den Schwarzen Peter – ich führe heute die Chassne an.“
Der Schwarze Peter – so nannte man Peter von Orb, stand auf dem Schild. Oh Mann …
Keyra formte ebenfalls das C, obwohl sie nicht wusste, was es bedeutete – aber es schien so etwas wie ein Gruß zu sein. „Ihr wisst bereits, wer ich bin.“ Betont lässig schlenderte Keyra zu einem freien Stuhl, setzte sich schwungvoll darauf und spielte mit dem Schlüsselbund. „Dann mal los. Wie läuft es ab?“
„Du verlierst keine Zeit, was?“ Pfeiffers Basti griente.
Keyra zuckte die Schultern. „Man nennt mich nicht umsonst die Flinke Clara.“ Und je eher ich die Sache hier durchziehe, desto schneller komme ich zu meinem Spaghetti-Eis mit Ben.
„Wir sollten uns tatsächlich beeilen, jetzt, da der Schlüssel hier ist“, meinte Peter. Er wandte sich Keyra zu. „Es kennen bereits alle außer dir ihre Aufgabe. Das Ziel ist eine Kaschemme im Wald bei Besen-Kassel. Wir haben sie ausgiebig ausbaldowert. Heute sind nur zwei Gäste da – magere Kaufleute, keine Gegner. Ein Teil geht vorne rein, aber du und ich, wir gehen mit deinem Schlüssel durch den Hintereingang. Hoffen wir, dass er noch passt, seitdem ihn dein Vater vor zwei Jahren hat mitgehen lassen.“
„Klar doch – der Gerninger-Wirt ist so geizig, der würde kein Geld für Ersatz ausgeben. Und er hat ja noch einen Schlüssel, der passt“, meinte der Bleiche Fritz.
„Während die Jungens und die Veteranen also vorne für Ablenkung sorgen, reißen wir uns hinten in der Schlafkammer die Geldkatze des fetten Wirtes unter den Nagel.“
„Warum hauen wir vorne nicht alles kaputt und marschieren einfach nach hinten in die Kammer durch? Wär doch viel einfacher“, meinte der Junge, den Peter als „Köhlers Pipp“ vorgestellt hatte.
„Das könnten wir auch machen. Aber wenn etwas dazwischen kommt – ein wehrhafter Gast vielleicht, der verspätet eingekehrt ist und es uns schwer macht – und wir nicht durchkommen, haben wir hinterher ein großes Tohuwabohu, aber keinen Zaster.“ Peter knuffte den Jungen in die Schulter. „Du bist noch nicht trocken hinter den Ohren, solche Dinge wirst du noch lernen.“
„Der Schwarze Peter ist nicht so der Typ dafür, einfach reinzugehen und alle totzuschlagen. Seine Pläne sind immer irgendwie schlau“, sagte der Bleiche Fritz in bewunderndem Ton.
Peter lachte. „Dann lasst uns meinen schlauen Plan mal umsetzen. Noch irgendwelche Fragen?“
Keyra hatte etwa tausend Fragen, aber die konnte sie unmöglich stellen. Auch sonst schwiegen alle.
Peter setzte einen dunklen Hut auf, nahm eine schwere Pistole, die auf einem Hocker lag, und ließ den Lauf in seine Hand klatschen. „Dann los.“ Plötzlich waren aller Charme und jeglicher Humor von ihm abgefallen. Nun war er ein Kämpfer, ein Anführer, der seine Soldaten in die Schlacht führte. Er wandte sich an Keyra: „Und du bleibst schön in meiner Nähe!“
Sie schlichen durch den Wald, der trotz des Sternenscheins düster und bedrohlich blieb. Keyra kannte sich in der Region nicht aus und wusste nicht, wie weit der Weg war. Doch sie hatte das Gefühl, stundenlang zu laufen. Geredet wurde kaum, und so schwieg auch sie. Es war jedoch keine angenehme Stille, sondern es lag eine Anspannung in der Luft, die sie frösteln ließ.
Es kam Keyra vor, als müsse bereits der Morgen heraufdämmern, als der Schwarze Peter endlich die Hand hob und ein kurzes „Halt!“ verlauten ließ. Sofort machten sich drei der Männer daran, einen gefällten Baum am Boden von Ästen und Laub zu befreien.
„Wir haben den Rennbaum bereits vorbereitet“, erklärte Peter halblaut an Keyra gewandt. „Dort drüben ist unser Ziel.“ Er wies auf einen Schatten zwischen den Bäumen; ein Gebäude, dessen Bewohner sicher längst im Schlaf lagen. Eine Straße führte daran vorbei und trennte die Räuber von ihren Opfern.
„Licht!“, befahl Peter, und die Räuber entflammten Talglichter. „Fritze, Basti, Lippes, Muck – ihr nehmt den Rennbalken und schlagt damit die Türe ein. Macht nur ordentlich Lärm und holt sie alle aus den Betten. Pipp, du stehst Schildwache. Clara kommt mit mir. Alle Mann Tücher vors Gesicht. Auf mein Kommando, Chesse.“ Gehorsam verteilten sich die Räuber auf ihre Posten. Keyra beeilte sich, Peter zu folgen, der in einem weiten Bogen um das Haus herumging. Er band sich ein Tuch so um den Kopf, dass nur seine Augen zu sehen waren.
„Hast du auch eine Maske?“, fragte er.
Keyra griff in die Ledertasche und fand ein großes schwarzes Tuch, mit dem sie ebenfalls ihr Gesicht verbarg. Sie kam sich vor wie ein Bandit aus einem alten Western.
„Halt den Schlüssel bereit!“, befahl er. „Sobald das Lärmen beginnt, sind wir an der Reihe.“
Keyra nickte, doch im Dunkeln sah es Peter wahrscheinlich gar nicht. Keyra hatte kein Talglicht bekommen, und auch er trug keines bei sich.
Sie bezogen Stellung an einer groben Tür, die wenig benutzt wirkte. Keyra musterte das Schloss und zog den Schlüsselbund hervor, hielt ihn fest, damit er nicht verräterisch klapperte. Sie war gleichzeitig verängstigt, beschämt und nervös. Sie war immerhin dabei, ein Verbrechen zu begehen. Zwar war ihr durchaus klar, dass sie keine Wahl hatte: Spielte sie nicht mit, flog ihre Tarnung auf. Doch als anständiges Mädchen schreckte sie davor zurück, das Gesetz zu brechen. Und ganz egal, in welcher Zeit sie gelandet war: Raub war mit Sicherheit strafbar und moralisch höchst verwerflich.
Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie dieses Mal nicht hier war, um den Überfall zu verhindern; im Gegenteil, diese Überfälle gehörten bereits zum Lauf der Geschichte, wusste sie instinktiv. Auf ihnen begründete sich schließlich die Legende von Peter von Orb. Vielleicht hätte sie anders gedacht, wäre das ihr erster derartiger