„Doch, es muss da oben gewesen sein, vorher hatte ich ihn noch.“ Keyra ging rückwärts, erst langsam, dann schneller. „Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.“
„Bist du sicher, dass ich nicht …?“
„Ja! Ich schaffe das, ich bin schon groß!“ Keyra drehte sich um und rannte zurück zum Turm. Mist, Mist, Mist! Sie hatte schroffer geklungen als beabsichtigt. Ben hält mich sicher für eine blöde Ziege und wird mich nie wieder ansehen.
Doch sie hatte keine Wahl. Ein Schloss rief nach ihr. Und sie hatte eine Ahnung, welches Schloss dort sang.
Es war tatsächlich das herzförmige Liebesschloss, aus dessen Schlüsselloch ein gleißendes goldenes Licht strömte. Eilig tastete Keyra nach dem Schlüssel an ihrer Halskette. Er pulsierte bereits erwartungsvoll. Nervös sah sie sich um, doch sie war vom Weg aus nicht zu sehen, wurde vom Turm verdeckt. Sie ging die wenigen Stufen der Metalltreppe hinauf, die sie zu dem singenden Schloss brachte – es hing in Höhe der ersten Plattform. Dieses Mal wuchs ihr Schlüssel nicht, sondern schrumpfte, bis er die richtige Größe für das Liebesschloss hatte. Rasch steckte sie ihn hinein und spürte unvermittelt den bereits vertrauten Sog, der sie schließlich ergriff und durch die Zeit riss.
Plötzlich war es dunkel um sie herum, und sie fiel aus zwei Schritt Höhe auf grasigen Grund. Wo – oder eher – wann auch immer sie war – eine Metallleiter gab es noch nicht.
„Aua!“, entfuhr es Keyra, als ihr Steiß auf den Boden prallte. Sie blinzelte, um sich zu orientieren. Es war Nacht, und über ihr spannte sich ein beeindruckendes Sternenzelt. Das Sternenlicht reichte jedoch nicht, um die Umgebung ausreichend zu erhellen. Sie war immer noch am Turm, glaubte sie. Der Umriss des Gebäudes erschien ihr klobiger, aber er war vorhanden.
„Wer da?“, erscholl ein Ruf von der Spitze des Turmes.
Ein Wächter! Keyra wollte instinktiv antworten, doch ein Impuls des Schlüssels ließ sie verstummen. Er schien sie wegzuziehen, fort vom Molketurm. Okay, dann gebe ich mal Gas, dachte Keyra und ließ sich von ihrem Schlüssel leiten. Sie schlug sich hastig in die Büsche und lief dann in den Wald hinein. Einmal rief der Wächter noch, dann hörte sie ihn nicht mehr. Vielleicht hatte er sie für ein Tier gehalten, das durch den nächtlichen Wald streifte.
„Wunderbare Idee, nachts in den Wald zu rennen, wo ich mich überhaupt nicht auskenne, und ohne zu wissen, in welcher Zeit ich überhaupt gelandet bin“, murrte Keyra, an den Schlüssel gewandt. Mit dem seltsamen Artefakt zu reden, wurde zu einer schlechten Angewohnheit von ihr. Doch einen anderen Gesprächspartner hatte sie nicht. Als sie sich weit genug von dem Molketurm entfernt glaubte, blieb sie stehen. Ihre Augen hatten sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt, sodass sie eine kleine Bestandsaufnahme vornehmen konnte. Sie trug mehrere Röcke übereinander, eine Weste und hatte eine lederne Tasche umgehängt. In dieser ertastete sie zu ihrer großen Erleichterung ihr Wächterbuch. Allerdings war es zu dunkel, um darin zu lesen. Die Haare hatte sie unter einer Haube oder einem Kopftuch verborgen. So ganz kam sie nicht dahinter, was sie da auf dem Kopf hatte, wollte aber auch nicht zu sehr daran herumnesteln. Die Stoffe waren grob, ihr Unterkleid kratzte. Meine unbekannten Kostümbildner waren dieses Mal nicht sehr spendabel gestimmt. Was auch immer das zu bedeuten hat.
„Und wohin jetzt?“ Der Schlüssel hatte offensichtlich genug von seiner Zweitprofession als Navi und war wieder zu einem leblosen Stück Bergkristall geworden. Von ihm bekam Keyra keine Impulse oder Hinweise mehr. „Na, danke auch.“ Sie brummte unwirsch und setzte ihren Weg durch den Wald fort. „Statt mir mit Ben ein Spaghetti-Eis zu teilen, renne ich in der Nacht durchs Nirgendwo. Ich hasse das, echt.“
Während sie noch schimpfte, tauchten erleuchtete Fenster im Dunkeln zwischen den Bäumen auf. Okay, also hatte der Schlüssel seinen Job bereits erledigt. Schön, mach ruhig Feierabend. Ich kümmere mich um den Rest.
Vorsichtig näherte sich Keyra der Hütte, bis sie vor der schief gezimmerten Tür stand. Sie hörte Stimmengemurmel von drinnen. Dort waren mehrere Personen, die ganz sicher nicht schliefen. Sie überlegte, ob sie zunächst durch eins der Fenster ins Innere spähen sollte.
Während sie noch darüber nachdachte, flog die Tür auf. Vor dem hellerleuchteten Hintergrund erkannte Keyra lediglich die schwarze Silhouette eines breitschultrigen Mannes.
„Ah, da ist sie ja endlich!“, rief eine jugendliche Stimme – angenehm und melodisch, und seltsamerweise erfreut. „Die Flinke Clara ist zu unserem Chawwerusch gekommen!“
3. Der Raubzug
Die Antwort auf den Ausruf war ein mehrstimmiges Grölen aus Männerkehlen. Keyra war wie erstarrt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Der Schattenmann kam auf sie zu. „Nur herein, Mädchen, du bist doch raue Gesellschaft gewöhnt.“
„Warte mal, Peter! Woher wissen wir, dass das Weibsstück die Richtige ist?“
Ein weiterer Mann trat in die Tür; ihn konnte Keyra besser erkennen, weil er seitlich stand und das Licht aus dem Inneren der Hütte auf sein Gesicht fiel. Nicht, dass ihr das Vertrauen eingeflößt hätte: Der Mann hatte ein breites, vernarbtes Gesicht und leicht hervorquellende wasserblaue Augen, die unter Büscheln strohblonden Haares hervor starrten. Seine wulstigen Lippen hatte er zusammengekniffen.
„Wir werden es gleich feststellen. Auch wenn sie nicht die Richtige ist, werden wir sie wohl kaum weiter durch den Wald laufen lassen, nachdem sie unser kleines Treffen gesehen hat, oder?“
Der Blonde nickte und trat zur Seite, und der Schattenmann wiederholte, jetzt schon leicht ungeduldig, die auffordernde Geste. „Herein mit dir!“
Keyra zögerte nicht länger, da sie das Gefühl hatte, dass einer der Männer sie sonst gewaltsam ins Haus zerren würde. Sie trat durch die Tür und blinzelte gegen das Licht mehrerer Lampen an, die die Hütte erhellten. Etwas über ein halbes Dutzend Gestalten saßen auf roh zusammengezimmerten Hockern und Stühlen. Die Männer entsprachen dem Bild, das der Blonde abgegeben hatte: einfache Burschen in ärmlicher Kleidung, mit teils einfältigen, teils groben Gesichtern.
Die Ausnahme bildete der Schattenmann, bei dem es sich um einen recht attraktiven Schwarzhaarigen handelte, dessen braune Augen und die Grübchen in seinen Wangen einen gewissen Charme versprühten. „Du bist doch die Flinke Clara, oder etwa nicht?“
„Natürlich bin ich das!“ Wenn Keyra eines aus den vergangenen Zeitreise-Abenteuern gelernt hatte, dann dies: Mitspielen! Und dass die erwartete Person den Namen ihrer Großmutter trug, den Keyra schon als Tarnname verwendet hatte, schien ihr ein eindeutiges Zeichen zu sein.
„Wusste ich es doch. Du siehst deinem Vater sehr ähnlich.“ Er riss ihr mit einer raschen Bewegung die Haube vom Kopf, sodass ihre rote Haarpracht hervorquoll. „Vor allem natürlich die Haare!“ Der Schwarzhaarige lachte, gab ihr die Haube zurück und schlug ihr auf die Schulter. „Jungens, der Rote Sepp ist ein guter Kamerusch von mir gewesen, der beste Kochemer im Aschaffenburger Land. Schade um seinen Hals, Mädel. Wann haben sie ihn erwischt?“
„Äh …“, entgegnete Keyra eloquent.
Einer der Männer fiel ihr ins Wort. „Im Frühjahr, hab ich gehört. War eine recht große Hinrichtung.“
„Zu Recht.“ Peter seufzte. „Ein guter Mann, der seinen Kodern das Handwerk ordentlich beigebracht hat, will ich meinen. Wie ich höre, trägt Clara ihren Räubernamen aus einem bestimmten Grund – keine im Aschaffenburger Land ist schneller im Schlösser knacken.“
„Und wenn sie die beste Schickse im Land wäre – ich bin immer noch dagegen, ein Weibsbild zur Chassne mitzunehmen.“ Ein sehr blasser Mann mit weißen Haaren und hellen Augen verschränkte missmutig die Arme. „Bringt nur Unglück.“
Der Schwarzhaarige lachte ansteckend. „Dieses hier bringt uns Glück – denn es hat uns ein Erbstück ihres