Leopold hatte Keyras Ausbruch mit stoischer Gelassenheit beobachtet. „Sind Sie fertig?“, fragte er, als sie Luft holen musste.
„Fürs Erste.“ Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Das sind sehr viele Fragen, und ich kann Ihnen davon wirklich im Moment keine einzige beantworten.“ Leopold zuckte mit den Schultern.
Keyra riss die Augen auf. „Ernsthaft? Keine einzige?“
„Es geht wirklich nicht. Ich bedaure, Sie werden mir einfach vertrauen müssen.“
„Vertrauen? Machst du Witze?“ Keyra ballte wütend die Hände zu Fäusten. „Ich werde hier von Zeit zu Zeit geschubst, muss Aufgaben erfüllen, von denen ich keine Ahnung habe, jetzt ist plötzlich auch noch von Prüfungen die Rede – und du und dein komischer Orden kommen mir keinen Millimeter entgegen. Wie soll ich euch vertrauen, wenn ihr mir nicht vertraut? Ich glaube fast, ich wäre allein besser dran.“
Leopold lachte laut auf. „Machen Sie sich nicht lächerlich! Ohne den Orden …“
„Ich bin bis jetzt auch ganz gut ohne den Orden zurechtgekommen. Ich brauche euch nicht.“
„Sie haben ja keine Ahnung …“
Keyra trat dicht vor ihn heran. „Sehr richtig, ich habe keine Ahnung. Und daran bist du – oh pardon, sind SIE, nicht unschuldig. Und weil ich hier ohnehin nichts Sinnvolles mehr erfahre, gehe ich jetzt.“
Erstmals sah Leopold überrumpelt aus. „Sie können nicht gehen, wir sind noch nicht fertig!“
„Oh doch, ich bin fertig.“ Keyra schnappte ihren Rucksack und ihren Motorradhelm. „Ich muss morgen früh raus, wir machen mit der Schule einen Studienausflug. Deswegen sollte ich langsam mal nach Hause fahren und schlafen gehen. Ich wünsche noch einen schönen Abend, Herr von Wachtberg!“ Sie fuhr schwungvoll herum und stolzierte hinaus.
2. Liebesschlösser
Die Schulglocke ertönte, als Keyra auf den Parkplatz fuhr und ihre Vespa abstellte. Zehn vor acht, die erste Stunde begann.
Mistmistmist, ich bin zu spät! Manchmal kam sie sich vor wie das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland“: Egal wie früh sie auch aufstand und wie sehr sie sich beeilte, am Ende kam sie doch immer auf den letzten Drücker. Sie riss sich den Helm vom Kopf und stopfte ihn in das Fach unter dem Sitz. Der Bus sollte um acht Uhr vor der Schule losfahren, und da stand er auch bereits mit laufendem Motor.
Ihr Geschichts-LK-Lehrer Sebastian Geiger stand vor dem Bus und sah sich ungeduldig um. Als er Keyra heran rennen sah, änderte sich sein Gesichtsausdruck und zeigte nun eine Mischung aus Erleichterung, Ärger und Belustigung. „Da bist du ja, Keyra. Ich dachte schon, der Spessart wäre als Ausflugsziel nicht aufregend genug für dich.“
„Wenn Sie es so ausdrücken …“, sagte Keyra, fügte aber gleich hinzu: „Tut mir leid, auf der Bundesstraße gab es einen Unfall, und deswegen sind alle Deppen über die Landstraßen gefahren, und …“
Geiger winkte ab. „Schon gut, geh einfach rein und such dir einen Platz. Wenn es dich beruhigt, du bist nicht die Letzte. In zwei Minuten fahren wir los, ganz gleich ob alle da sind.“
Keyra stieg kommentarlos ein. Sie wusste, dass Geigers Worte eine leere Drohung waren – solange niemand krankgemeldet war, würde der Lehrer natürlich warten. Sie ließ ihre Blicke über die Sitzreihen schweifen und entdeckte Lou, die ihr zuwinkte und neben sich deutete. Selbstverständlich hatte ihre beste Freundin ihr einen Platz freigehalten, so gehörte sich das schließlich. Nur blöd, dass sie auf dem Weg dorthin an Greta Strobel, der blöden Nuss, vorbeimusste.
„Die Kelly hält mal wieder den ganzen Verkehr auf“, quietschte Greta so laut, dass es der ganze Bus hören musste.
Keyra wurde rot und drängte sich weiter.
„Ach ja? Ich glaube, dein Schatzi Ben ist auch noch nicht da – vielleicht ist er es ja, der den Verkehr aufhält?“, rief Lou Greta zu.
„Ich glaube, Greta würde gerne mit Ben im Verkehr feststecken“, grölte Lukas, der Klassenclown, und die Jungs im Bus schmissen sich weg.
Keyra konnte sexistische Witze nicht leiden. Auch dann nicht, wenn Greta das Ziel war und erst recht nicht, wenn Ben irgendwie damit in Zusammenhang stand. Sie sagte jedoch nichts und ließ sich neben Lou auf den Sitz gleiten. Sie war froh, dass die Aufmerksamkeit der Schüler – den Teilnehmern von Leistungs- und Grundkurs Geschichte ihres Jahrgangs – von ihr abgelenkt war.
„Ben ist nicht ihr Schatz“, murmelte sie so leise, dass nur Lou es hören konnte.
„Deiner allerdings auch nicht“, gab Lou süffisant zurück. „Wo warst du denn schon wieder?“
„War viel los auf den Straßen.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Eigentlich hatte Keyra verschlafen, obwohl sie ihren Wecker extra auf zehn Minuten früher wecken gestellt hatte. Dann musste sie auch noch am Ortsausgang von Rüdigheim, wo sie wohnte, noch einmal umdrehen, weil sie ihr Wächterbuch liegen gelassen hatte. Ohne das Buch ging sie nirgendwo mehr hin.
„Hoffentlich nicht auf der Autobahn, sonst brauchen wir ewig nach Bad Orb“, stöhnte Lou. „Hat der Sozen-Seppl dir einen Anschiss verpasst?“
Keyra spähte um ihren Sitz herum, ob der Lehrer mittlerweile in den Bus gekommen war und die despektierliche Anrede mitbekommen hatte; aber er stand immer noch draußen. „Nein, er hat nur nen blöden Spruch gerissen. Wo Ben nur bleibt, der hat es doch von der hohen Tanne aus nicht weit …?“
In diesem Augenblick kamen Ben und Geiger in den Bus, Ben mit einem verschmitzten, entschuldigenden Lächeln, das offenbar nicht nur Keyras Herz erweichte. Auch Geiger sah nicht sauer aus, sondern klopfte Ben auf die Schulter und wandte sich dem Busfahrer zu.
„Wie macht der das nur, dass die Lehrer ihm jede Dummheit durchgehen lassen?“, flüsterte Lou an Keyras Seite.
„Charisma“, seufzte Keyra.
„Huhuuuuu, Ben!“, kreischte Greta durch den Bus. „Neben mir ist noch ein Platz frei!“
Zu Keyras Erstaunen, Gretas Entsetzen und zur Verblüffung des gesamten anwesenden Jahrgangs marschierte Ben jedoch an Greta vorbei und warf seinen Rucksack in die noch leere Sitzreihe vor Keyra und Lou. „Sorry Greta, ich hab gestern lange gezockt und brauch auf der Fahrt ein bisschen Ruhe“, rief er Greta über die Schulter zu, was eine erneute Lachsalve unter den männlichen Schülern des Jahrgangs zwölf der Otto-Hahn-Schule auslöste. Er zwinkerte Keyra zu und ließ sich auf den Sitz vor ihr fallen. Greta bekam einen knallroten Kopf und verschwand in ihrer Sitzreihe. Keyra und Lou sahen sich an und grinsten breit, während sich der Bus langsam in Bewegung setzte.
„Was zockst du denn so?“, fragte Lou, indem sie sich über die Lehne beugte.
„World of Dungeon Lords“, nannte Ben ein populäres Onlinespiel. Keyra war nicht besonders verwundert. Die meisten Jungs, die sie kannte, hatten einen Account – und auch ziemlich viele Mädchen.
„Hey, so ein Zufall – das spielt Keyra auch.“ Lous Augenaufschlag war so unschuldig wie nur möglich.
„Ach, echt?“ Ben lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster, sodass er die Mädchen hinter sich ansehen konnte. „Welches Level?“
„Ich spiele eine Diebin, Prestigeklasse Schattengänger, Level 32.“ Keyra wurde unter Bens interessierten Blicken nervös. „In letzter Zeit komme ich nicht so oft zum Spielen. Ich … ich habe viel zu tun …“
„Schade. Ich hab nen Barbar, Stufe 35 – würde sich bestimmt ganz gut ergänzen. Du kannst ja Bescheid sagen, wenn du mal wieder online gehst.“