Jesus war kein Europäer. Kenneth E. Bailey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kenneth E. Bailey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417228694
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in einen Diskurs mit der außergewöhnlich umfangreichen aktuellen Literatur zu treten, die zu den besprochenen Bibeltexten vorliegt – diese Arbeit wurde bereits fachkundig von Joseph Fitzmyer, Arnold Hultgren, I. Howard Marshall und andern übernommen.18

      Es ist mir ein Anliegen, dass auch Leser ohne theologische Vorbildung den folgenden Erörterungen problemlos folgen können. Ohne anmaßende Vergleiche anstellen zu wollen, habe ich mir vor allem die Readings in St. John’s Gospel des ehemaligen Erzbischofs von Canterbury, William Temple,19 zum Vorbild genommen – sowie auch die Arbeit von Lesslie Newbigin zum Johannesevangelium.20

      Meine Absicht ist es, neue Perspektiven aus der orientalischen Tradition beizutragen, die bisher, wenn überhaupt, außerhalb der arabischsprachigen christlichen Welt nur wenig beachtet wurden. Ich hoffe sehr, dass die folgenden Aufsätze dem Leser helfen werden, die Gedankenwelt Jesu und die Gedankenwelt der Evangelienautoren bzw. -redaktoren besser zu verstehen, so wie diese die ihnen vorliegenden Überlieferungen aufzeichneten und auslegten. Es bleibt dem Leser überlassen zu beurteilen, ob ich mein Ziel erreicht habe.

      Alle Zitate aus arabischen Quellen in diesem Buch wurden von mir selbst übersetzt. Ich fände es pedantisch, jede einzelne davon mit dem Vermerk „eigene Übersetzung“ zu versehen. Für etwaige Fehler zeichne ich allein verantwortlich. Allerdings weise ich gesondert darauf hin, wo ich selbst Texte aus dem Hebräischen, Aramäischen, Griechischen und Syrischen übersetzt habe. Bei den verwendeten Bibeltexten habe ich mit der Revised Standard Version [für die deutsche Ausgabe: Elberfelder Bibel, Anm. d. Übers.] gearbeitet und gelegentlich selbst aus dem Griechischen übersetzt. Wenn ich auf die rhetorische Struktur eines Textes eingehe, verwende ich die RSV, bearbeite diese Bibelübersetzung jedoch gelegentlich anhand des griechischen Grundtextes.

      Die hier untersuchten Bibelabschnitte sind großartige Texte, aus der gläubige Menschen seit fast zweitausend Jahren Inspiration beziehen. „Furcht und Zittern“ muss jeden Ausleger überkommen, der es wagt, solch heiligen Raum zu betreten und sich dem mit brennenden Kerzen geschmücktem Altar zu nähern. Mögen Autor und Leser diese Erfahrung teilen.

ERSTER TEIL
Jesu Geburt

      1

      Die Geschichte der Geburt Jesu

      LUKAS 2,1-20

      Die überlieferten Ereignisse der Weihnachtsgeschichte sind allen Christen hinlänglich bekannt. Zur Geburt Jesu gehören drei weise Männer mit Geschenken, Hirten auf dem Feld mitten im Winter, ein Baby, das in einem Stall geboren wird, und „kein Raum in der Herberge“. Diese Aspekte des Berichts sind in den Köpfen der Menschen fest verankert. Deswegen stellt sich die Frage, ob man zwischen dem Text und seinem traditionellen Verständnis eine kritische Unterscheidung vornehmen muss. Haben wir über Jahrhunderte hinweg etwas in den Text hineingelesen, das er eigentlich gar nicht enthält?21

      Ein Diamantring wird bewundert und voller Stolz getragen, doch irgendwann sollte man ihn zum Reinigen zu einem Juwelier bringen, damit er wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft erhält. Je öfter der Ring getragen wird, umso eher sollte er hin und wieder gereinigt werden. Je vertrauter wir mit einer biblischen Geschichte sind, umso schwieriger ist es, sie anders zu lesen, als sie schon immer verstanden wurde. Und je länger die Ungenauigkeit in der Überlieferung unkorrigiert bleibt, umso tiefer wird sie im christlichen Bewusstsein verankert. Jesu Geburt ist eine solche Geschichte.

      Das traditionelle Verständnis des Berichts in Lukas 2,1-18 enthält mehrere entscheidende Schwächen:

      1. Josef kehrte in den Ort zurück, aus dem er stammte. Im Nahen Osten besitzen die Menschen ein ausgeprägtes Gedächtnis für Geschichte. Für sie hat die Verwandtschaft und deren Verwurzelung in ihrem Herkunftsort eine große Bedeutung. In einer solchen Welt hätte ein Mann wie Josef in Bethlehem auftauchen können und sich den Einwohnern als „Josef, [Sohn] des Eli, des Mattat, des Levi“ (Lk 3,23 f) vorstellen können – und die meisten Häuser des Ortes hätten ihm offen gestanden.

      2. Josef war ein „Adliger“, das heißt, er stammte aus der Familie des Königs David. Die Familie Davids war so berühmt in Bethlehem, dass die Einheimischen den Ort offenbar „Stadt Davids“ nannten, eine Gepflogenheit, der man oft begegnet. Der offizielle Name des Ortes war Bethlehem. Jeder wusste, dass die hebräischen Heiligen Schriften Jerusalem als die „Stadt Davids“ bezeichneten. Doch so bezeichneten in der Umgegend offenbar viele Menschen auch Bethlehem (Lk 2,4). Da Josef aus dieser berühmten Familie stammte, wäre er überall im Ort willkommen gewesen.

      3. In jeder Kultur wird eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht, besonders umsorgt. Einfache ländliche Gemeinschaften überall auf der Welt helfen ihren eigenen Frauen bei der Geburt, ungeachtet der Umstände. Sollte Bethlehem eine Ausnahme gewesen sein? Hatten die Menschen in Bethlehem kein Ehrgefühl? Sicher hätte die Gemeinschaft die Verantwortung verspürt, Josef bei der Suche einer angemessenen Unterkunft für Maria zu helfen und ihr die Fürsorge zukommen zu lassen, die sie brauchte. Einen Nachkommen Davids in der „Stadt Davids“ abzuweisen, hätte unsägliche Schande über den ganzen Ort gebracht.

      4. Maria hatte Verwandtschaft in einem nahe gelegenen Dorf. Einige Monate vor Jesu Geburt hatte Maria ihre Cousine Elisabeth im „Gebirge von Judäa“ besucht und wurde von ihr willkommen geheißen. Bethlehem lag im Zentrum von Judäa. Als Maria und Josef in Bethlehem eintrafen, waren sie also nicht weit von dort entfernt, wo Zacharias und Elisabeth wohnten. Wenn Josef tatsächlich keine Unterkunft in Bethlehem gefunden hätte, wäre er natürlich zu Zacharias und Elisabeth gegangen. Doch hatte er Zeit für diese wenigen zusätzlichen Kilometer?

      5. Josef besaß genug Zeit, angemessene Vorkehrungen zu treffen. In Lukas 2,4 heißt es, Josef und Maria „gingen von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa“, und in Vers 6, „als sie dort waren, wurden ihre Tage erfüllt, dass sie gebären sollte“ (Hervorhebung von mir).22 Die meisten Christen denken, dass Jesus in der gleichen Nacht geboren wurde, in der die Familie in Bethlehem eintraf – daher auch Josefs Eile und Bereitschaft, jede Unterkunft zu akzeptieren, selbst einen Stall. Traditionelle Krippenspiele zementieren diesen Gedanken jedes Jahr.

      Im Text wird die Zeit, die das Paar vor der Geburt in Bethlehem verbrachte, nicht genau angegeben. Doch sicher reichte sie aus, um eine angemessene Unterkunft zu finden oder Marias Familie aufzusuchen. Der Mythos einer Ankunft mitten in der Nacht mit der unmittelbar bevorstehenden Geburt ist so tief im christlichen Gedankengut verwurzelt, dass es wichtig ist, nach seinem Ursprung zu fragen. Woher stammt diese Idee?

      Die Quelle dieser Fehlinterpretation stammt aus einer Zeit etwa zweihundert Jahre nach der Geburt Jesu, als ein anonymer Christ eine ausgeschmückte Erzählung über das große Ereignis schrieb. Dieses sogenannte Protevangelium des Jakobus23 ist erhalten geblieben. Der aus dem Neuen Testament bekannte Jakobus hatte damit nichts zu tun. Der Autor war auch kein Jude und hatte keine Ahnung von der Geografie Palästinas und von jüdischen Traditionen.24 In dieser Zeit schrieben viele Menschen Bücher, für die sie berühmte Personen als Autor angaben.

      Dieser besondere „Roman“ enthält zahlreiche fantasievolle Details. Hieronymus, der berühmte lateinische Gelehrte, kritisierte das Werk, ebenso viele Päpste.25 Es wurde ursprünglich auf Griechisch verfasst und ins Lateinische, Syrische, Armenische, Georgische, Äthiopische, Koptische und Altslawische übersetzt. Zwar hatte der Verfasser eindeutig die Evangelienberichte gelesen, kannte jedoch, wie erwähnt, die Geografie des Heiligen Landes nicht. Zum Beispiel beschreibt der Autor in seinem Roman die Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem als Wüste. Allerdings liegt sie nicht in einer