Vilena ging in den Park. Noch glitzerten Tautropfen an den Gräsern, am Gebüsch und an den Blättern und Ästen der Bäume. Vilena blieb stehen. Erinnerungen an glückliche Tage aus ihrer frühen Kindheit wurden schmerzhaft in ihr wach. Mit einem kleinen Seufzer wandte sie sich wieder dem Haus zu. Am Eingang traf sie auf Denise.
»Guten Morgen, Frau von Schoenecker«, grüßte sie höflich.
»Guten Morgen, Vilena.« Denises Stimme klang freundlich. »Hast du schon einen Morgenspaziergang gemacht?«
»Ich habe mich ein wenig umgesehen«, antwortete Vilena leise. »Es ist wunderschön hier.«
»Ich freue mich, wenn dir Sophienlust gefällt. Es liegt ganz bei dir, ob und wie lange du bleibst. Komm mit mir, wir wollen einmal darüber reden.«
Schade, dachte Vilena, es geht schneller zu Ende, als ich gedacht hatte. Mit zögernden Schritten folgte sie Denise, die sie in das Biedermeierzimmer führte. Überrascht blieb Vilena auf der Schwelle stehen. Ihre Augen tasteten den Raum ab, erfassten die hohen Fenster mit den seidenen Vorhängen, die schönen alten Möbel mit ihren schlichten Formen, die gestreiften Bezüge der Polsterungen.
»Das ist schön und stilvoll«, äußerte sie leise.
»Gefällt es dir?«, fragte Denise und wunderte sich über den ausgeprägt guten Geschmack des Mädchens. »Hier hat schon Nicks Urgroßmutter gelebt. Ich habe nichts geändert. Komm! Setz dich. In diesem Raum kann man in aller Ruhe über alles sprechen. Er hat schon viel gehört. Aber die Gegenstände hier bleiben stumm, sie verraten nichts von dem, was hier gesprochen wird.«
Denise nahm Vilena gegenüber Platz und ließ eine Weile vergehen, ehe sie das Gespräch begann. »Ich habe vorhin gesagt, Vilena, du könntest bei uns bleiben, solange du willst. Aber es gibt da einiges, über das wir unbedingt sprechen müssen. Du wolltest nichts von dir erzählen. Ich nehme an, dass du gewichtige Gründe dafür hast. Andererseits musst du natürlich bedenken, dass ich dich nicht ohne weiteres hierbehalten kann. Ein vierzehnjähriges Mädchen kann nicht einfach verschwinden. Es wäre immerhin möglich, dass du Angehörige hast, die sich deinetwegen Sorgen machen.«
Vilena schüttelte den Kopf. Es fiel ihr schwer zu sprechen, weil sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste.
»Ich habe gewusst, dass ich nicht hierbleiben kann. Aber ich hatte nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde. Es war eben eine Illusion. Glauben Sie bitte nicht, Frau von Schoenecker, dass ich Ihren Standpunkt nicht verstehen könnte. Ihre Bedenken sind mir völlig klar. Ich habe mir schon selbst dasselbe gesagt. Nein, ich habe keine Angehörigen, die sich um mich sorgen. Aber ich kann auch nicht dorthin zurück, woher ich gekommen bin. Nein, niemals möchte ich das noch einmal erleben, was ich durchgemacht habe.«
Vilena brach ab, weil sie nicht mehr weitersprechen konnte. Tränen liefen über ihre Wangen. Es war ein stilles, lautloses Weinen, das sie erschütterte.
Denise ließ ihr Zeit. Sie ergriff tröstend die Hand des Mädchens und behielt sie in der ihren.
»Ich glaube nicht, dass du zurückgehen musst, Vilena«, sagte sie leise und ernst. »Ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, dass du hierbleiben kannst. Aber dazu müssen wir etwas unternehmen. Das kann ich jedoch nicht, wenn ich nicht weiß, an wen ich mich wenden muss. Du musst mir vertrauen. Ich kann und will dich nicht zwingen, doch musst du mir glauben, dass hier nichts gegen deinen Willen geschieht. Deshalb schlage ich vor, dass du mir alles rückhaltlos erzählst. Dagegen verspreche ich dir, dass ich mit keinem Menschen darüber reden werde, falls du der Meinung bist, wir könnten dir nicht helfen. Wir sind uns dann niemals begegnet, ich werde dich nicht zurückhalten, du kannst wieder verschwinden und untertauchen, wie du gekommen bist. Ich nehme aber nicht an, dass es dazu kommen wird. Du bist zwar erst vierzehn Jahre alt, aber weit über dein Alter hinaus gereift. Also wirst du vernünftigen Überlegungen zugänglich sein.« Denise ließ eine Pause eintreten, um dem Mädchen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Dann fügte sie mit einem halben Lächeln hinzu: »Wollen wir diesen Pakt schließen?«
Vilena hatte in der Zwischenzeit ihre Ruhe wiedergefunden. Sie nickte stumm mit dem Kopf, ehe sie antwortete: »Ich habe Vertrauen zu ihnen, Frau von Schoenecker. Ich glaube, dass ich bisher kaum jemals zu einem Menschen so viel Vertrauen gehabt habe wie zu Ihnen. Ich verstehe Ihre Gründe und bin gescheit genug, um zu begreifen, dass es so mit mir nicht weitergehen kann wie bisher.« Sie lächelte ein wenig bitter. »Es wird nicht sehr erfreulich sein, was ich Ihnen zu erzählen habe. Lassen Sie mich vorausschicken, dass ich gestern Abend sehr glücklich war, als ich hierbleiben durfte. Ich habe die freundliche Atmosphäre, die mich umgab, förmlich in mich hineingesogen, weil ich dergleichen viele Jahre hindurch nicht mehr erlebt habe. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, wie sehr ich erschrak, als Carola Rennert gestern Abend erwähnte, sie habe schon einmal ein Kinderbild von mir gesehen. Schön. Sie hat recht gehabt. Wahrscheinlich hat sie in irgendeiner Zeitschrift oder in einem Katalog einer Kunstausstellung ein Bild von mir gesehen. Ich habe aus Angst gelogen. Aber Lügen haben kurze Beine.«
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