»Bist du sicher, dass du dich nicht getäuscht hast?«, fragte Alexander.
Doch noch ehe Denise antworten konnte, sprang Sascha in die Bresche. »Davon bin ich fest überzeugt, Vati. Mutti täuscht sich eigentlich nie. Und wenn du Vilena gesehen hast, stimmst du Mutti bestimmt zu.«
»Oha, Vati!«, lachte Nick. »Dein Ältester steht in hellen Flammen.«
Sascha bekam einen roten Kopf. »So’n Quatsch, Nick. So blöd kannst auch nur du daherreden. Das ist doch noch ein Kind. Kaum vierzehn Jahre alt.«
Denise fand es an der Zeit, einzugreifen. »Wir wollen nicht streiten«, mahnte sie. »Jeder soll seine Meinung zum Ausdruck bringen. Deshalb ist es unrichtig von dir, Nick, Sascha gleich persönliche Motive zu unterstellen.«
Nick lenkte sofort ein. »Ich finde sie ja auch recht hübsch. Und ehrlich ist sie auch. Ich habe lange mit ihr gesprochen. Ich hätte es sofort gemerkt, wenn sie ein Flittchen wäre.«
»Dominik!«, rief Denise. »Wo hast du nur den Ausdruck wieder aufgeschnappt?«
Wenn seine Mutti Dominik sagte, wusste Nick, was die Glocke geschlagen hatte. Doch unerwartet fand er in Sascha einen Verteidiger: »Wo schon, Mutti. In der Schule natürlich. Wir kennen alle diese Ausdrücke. Nur ist Nick so unvorsichtig, sie auch zu benutzen.«
Alexander von Schoenecker wandte sich ab. Er musste heimlich lachen. Gott sei Dank, dachte er, habe ich noch nicht vergessen, dass ich auch einmal ein Junge war. Aber es ist ganz prächtig, wie die Rasselbande zusammenhält, wenn es wirklich darauf ankommt.
Er drehte sich wieder um und sagte: »Lassen wir die Sache auf sich beruhen. Mutti wird schon alles in Ordnung bringen. Und nun schlage ich vor, dass unsere Jugend ins Bett verschwindet, während wir Alten uns noch einen Schlummertrunk genehmigen.«
Dominik hatte schon wieder Oberwasser. »Ich höre immer ›Alten‹«, sagte er verschmitzt. »Solltest du diesen Ausdruck etwa in Bezug auf meine Eltern gebrauchen, müsste ich mir das energisch verbitten. Wir sind in der glücklichen Lage, noch recht jugendliche Eltern zu haben.«
Damit hatte er die Lacher auf seine Seite gebracht. So war es immer auf Schoeneich. Einen richtigen Streit gab es eigentlich nicht. Er wurde immer im Keime erstickt.
Sascha, Andrea und Nick zogen ab, nachdem sie sich von ihren Eltern mit einem Gute-Nacht-Kuss verabschiedet hatten. Sie gönnten ihrem Vati und ihrer Mutti das abendliche Plauderstündchen, denn beide hatten den ganzen Tag über wenig Gelegenheit, allein zu bleiben.
»Was nimmst du, mein Liebes, einen Whisky oder einen Kognak?«
»Gib mir einen Kognak«, bat Denise. »Ich glaube, ich habe ihn heute nötig.«
Alexander mischte sich einen Whisky mit Eis und Soda und brachte Denise ihren Kognak. Schweigend nahm er einen kräftigen Schluck, während Denise nur an ihrem Glas nippte.
»Mir geht das Mädchen nicht aus dem Sinn«, begann sie, indem sie das Glas abstellte. »Ich konnte sie beobachten, als Carola davon sprach, sie habe schon einmal ein Bild von ihr gesehen. Sie war tödlich erschrocken. Für einen Augenblick gewann ich den Eindruck, sie wolle davonlaufen.«
»Wahrscheinlich stimmt dann also Carolas Beobachtung. Als Malerin hat sie einen guten Blick und vergisst kaum jemals etwas, was ihr einmal aufgefallen ist. Besonders dann nicht, wenn es mit ihren künstlerischen Ambitionen in Zusammenhang steht. Dieser Gedanke bringt mich in eine bestimmte Richtung.«
»Eben!«, warf Denise ein. »Diese Idee kam mir auch, als ich Carolas Äußerung hörte. Höchstwahrscheinlich hat jemand das Kind einmal gemalt, und das Bild wurde in einem Katalog oder einer Zeitschrift abgebildet. Aber wozu sollen wir uns jetzt darüber den Kopf zerbrechen. Im Grunde ändert sich dadurch nichts an den Tatsachen. Ich werde morgen mit Vilena sprechen. Es wird sich schon herausstellen, was mit ihr los ist. Ich bin allerdings ganz sicher, dass Nick damit recht hat, dass sie kein Flittchen ist.«
Alexander lachte aus vollem Halse. »Also Ausdrücke hast du! Ich muss schon sagen, das ist wirklich allerhand. Ich möchte nur wissen, wo du das wieder aufgeschnappt hast!«
Fröhlich stimmte Denise in sein Gelächter ein. Alexander beugte sich zu ihr hinab und küsste sie zart und innig. »Komm, mein Liebes, wir wollen schlafen gehen. Du hast einen anstrengenden und aufregenden Tag hinter dir.«
»Und doch einen guten«, stimmte ihm Denise zu. »Ich glaube kaum, dass wir dieses Kind so bald wieder verlieren werden. Es spricht gar nichts dafür. Und mein Gefühl trügt mich selten.«
*
Am anderen Morgen fuhr Denise sehr zeitig nach Sophienlust. Sie wollte Klarheit haben. Es war sowohl im Interesse des Mädchens wie auch in ihrem eigenen.
Vilena erwachte an diesem Morgen von den hellen Stimmen der Kinder, die durch die Gänge und Treppen des Hauses hallten. Sie musste sich einige Augenblicke besinnen, bis sie sich zurechtfand und wieder wusste, wo sie war. Sie hatte schon lange nicht mehr so gut und so tief geschlafen. Viele unruhige Nächte lagen hinter ihr. Denn wenn sie in einen Heustadel gekrochen war oder die Nacht in einer Scheune verbracht hatte, war sie vor Angst immer wieder aufgewacht.
Nun schien die frühe Sonne in ihr Zimmer, und die Vorhänge blähten sich im leichten Morgenwind. Vilena genoss die Wärme und die Weichheit des Bettes. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und weitergeschlafen. Doch sie dachte daran, dass in einem Heim, in dem so viele Kinder lebten, eine gewisse Ordnung herrschen musste, wenn der Betrieb in geregelten Bahnen verlaufen sollte. So dehnte sie sich nochmals, gähnte herzhaft, schlug dann mit einem Ruck die Decke zurück und sprang aus dem Bett.
Fürsorglich hatte ihr Frau Rennert am vergangenen Abend einen Schlafanzug auf das Bett gelegt. Vilena streifte ihn ab, eilte in die Duschnische, zog die Vorhänge hinter sich zu und drehte die Hähne auf. Es war für sie ein wundervoller Genuss, das warme Wasser an ihrem Körper zu spüren, sich richtig abseifen zu können und sich ordentlich zu waschen. Das hatte sie unterwegs am meisten entbehrt.
Rasch schlüpfte sie danach in ihre Kleider. Es tat ihr leid, dass sie wieder die ausgewaschenen Bluejeans und die zerknitterte Bluse anziehen musste. Doch sie hatte nichts anderes. Vorsichtshalber packte sie ihr Bündelchen wieder zusammen, denn sie wusste ja nicht, ob sie noch einen oder zwei Tage würde bleiben dürfen.
Als sie ins Erdgeschoß kam, waren alle Kinder schon beim Frühstück. Frau Rennert begrüßte sie und wünschte ihr einen guten Morgen. »Warum bist du schon aufgestanden, Vilena?«, fragte sie. »Du brauchst doch nicht zur Schule. Also hättest du ruhig einmal tüchtig ausschlafen können.«
Vilenas Blick verriet Überraschung. »Aber dann hätte ich Ihnen den ganzen Haushalt durcheinandergebracht.«
»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen«, lachte Frau Rennert. »So genau nehmen wir das nicht. Aber wenn du schon aufgestanden bist, kannst du auch gleich mit den übrigen Kindern frühstücken.«
Schon beim Frühstück ging es recht lustig zu. Die Kinder schwatzten und lachten durcheinander. Dann brachen alle auf, weil sie zur Schule mussten. Zuerst die Größeren, die in der Stadt das Gymnasium besuchten.
Vilena begleitete Pünktchen und Malu auf den Gutshof hinaus. Der Schulbus wartete schon und fuhr nach wenigen Minuten ab. Als kurz darauf auch die kleineren Kinder zur Dorfschule abgefahren waren und Schwester Gretli die noch nicht schulpflichtigen Kinder abgeholt hatte, um mit ihnen spazierenzugehen, wurde es ziemlich still auf Sophienlust.
Sich selbst überlassen,