Nick ging um den Wagen herum und reichte Vilena zuvorkommend die Hand. Er glaubte die Vorstellung seiner Mutter ergänzen zu müssen. »Ja, ich bin Dominik von Wellentin. Herzlich willkommen auf Sophienlust, Vilena. Darf man fragen, wie du weiter heißt?«
»Tu das lieber nicht«, antwortete Denise warnend. »Das möchte Vilena nämlich nicht verraten.«
Zum ersten Mal musste Vilena lachen. »Deine Mutter hat mich auf der Straße aufgelesen, Dominik«, erklärte sie. »Sie weiß auch nicht, wie ich weiter heiße. Ich möchte es auch nicht sagen. Aus dem einfachen Grund nicht, weil ich ausgekniffen bin und nicht zurück will. Kannst du das verstehen?«
Nick war ein wenig enttäuscht. Die Antwort befriedigte ihn nicht. Aber es gelang ihm recht gut, seine Enttäuschung zu überspielen.
»Wir können hier alles verstehen. Das wirst du bald merken. Übrigens brauchst du mich nicht Dominik zu nennen. Ich heiße zwar so, aber alle meine Freunde nennen mich Nick. Wir wollen doch Freunde werden?«
Vilena kam alles hier merkwürdig vor. Die fremde schöne Frau, die sie mitgenommen hatte, der große Junge, der so freundlich war und ihr die Freundschaft anbot, obwohl er nicht wusste, wer sie war. So viel Güte und Entgegenkommen war ihr seit Jahren nicht mehr begegnet. Sie wirkte beinahe schüchtern, als sie Nick antwortete. Doch in ihren großen blauen Augen leuchtete es auf.
»Gern, Nick. Aber vielleicht ziehst du dein Angebot wieder zurück, wenn ich dir erzähle, dass ich mich schon drei Wochen lang auf der Landstraße herumtreibe, also eine richtige Streunerin bin.«
Denise war über die Offenheit des Mädchens ebenso verblüfft wie über seine gewandte und gewählte Ausdrucksweise. Aus der Gosse kam dieses Kind bestimmt nicht.
Nick betrachtete das Mädchen von oben bis unten und stellte dann sachlich fest: »Dafür siehst du aber ganz ordentlich aus.«
Vilena lachte hellauf. Ihr Lachen war perlend und glockenklar. »Du meinst, weil ich nicht total verdreckt bin? Weißt du, das ist so. Ich habe mir alle paar Tage meine Hose und meine Bluse gewaschen, wenn ich irgendwo im Wald einen Bach entdeckt hatte. Wenn man nämlich schmutzig ist, nimmt einen keiner in seinem Wagen mit, denn die Leute haben Angst, man könnte ihnen die Polster verschmieren. Das kannst du dir merken für den Fall, dass du auch einmal als Anhalter mitgenommen werden willst.«
Frau Rennert trat jetzt aus dem Portal. Denise nahm die Gelegenheit wahr, das Gespräch zwischen Nick und Vilena zu unterbrechen. Sie fasste Vilena um die Schultern und führte sie die Stufen hinauf.
»Frau Rennert, hier bringe ich Ihnen Vilena. Ich denke, wir geben ihr das Zimmer neben Vicky.« Für Vilena fügte sie hinzu: »Frau Rennert ist nämlich unsere Heimleiterin.« Danach wandte sie sich an Nick. »Nick, würdest du Vilena ihr Zimmer zeigen?«
Bereitwillig nahm Dominik dem Mädchen das kleine Bündel, das es in der Hand trug, ab und spielte übermütig den Hoteldiener. »Mit dem größten Vergnügen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, mein Fräulein! Ich darf Ihnen wohl das Gepäck abnehmen?«
Das Mädchen nickte. Als es an Frau Rennert vorüberging, reichte ihr auch diese die Hand: »Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen, Vilena.«
Das Mädchen glaubte in eine andere Welt versetzt zu sein. Keiner von all diesen Menschen kannte sie, und doch kamen ihr alle so liebenswürdig und hilfsbereit entgegen.
Denise hatte Nick in voller Absicht mit Vilena vorausgeschickt. Sie wollte das Mädchen vor unnötigen Fragen schützen. Aus diesem Grunde erzählte sie Frau Rennert, dass sie Vilena auf der Straße angetroffen habe und dass das Mädchen über Name und Herkunft nicht sprechen wolle. Wenn Frau Rennert unterrichtet war, konnte sie die anderen Kinder daran hindern, Vilena auszufragen.
Nick kam zurück. »Die hat sich gefreut«, lachte er, »als sie ihr Zimmer sah. Beim Anblick der Dusche hat sie vor lauter Wonne geschrien. Eine eigene Dusche hätte sie noch nie gehabt, hat sie gesagt.«
Denise bat Nick, in Schoeneich anzurufen und mitzuteilen, dass sie zum Abendessen auf Sophienlust bleiben wolle. Es lag ihr daran, das fremde Mädchen näher kennenzulernen und es unauffällig zu beobachten.
Nick verschwand, um seinen Auftrag auszuführen. Denise unterhielt sich noch eine Weile mit Frau Rennert, die diese Gelegenheit nutzte. Es gab immer eine ganze Anzahl von Dingen, die besprochen werden mussten.
Danach verließ Denise das Haus und ging in den Park. Wie ein Lauffeuer hatte es sich in Sophienlust herumgesprochen, dass Tante Isi angekommen sei und ein Mädchen mitgebracht habe. Die größeren Kinder kamen vom Reiten zurück und wollten gern Näheres wissen. Denise gab bereitwillig Auskunft, bat jedoch, Vilena keine Fragen zu stellen, sondern zu warten, bis sie von sich aus bereit sei, zu sprechen. Sie forderte außerdem Malu und Pünktchen auf, sich des Mädchens etwas anzunehmen, denn sie fürchtete, Vilena könnte den Abend nutzen, um wieder zu verschwinden. Sie wollte aber das Mädchen nicht noch einmal einem ungewissen Abenteuer ausgesetzt wissen.
Malu und Pünktchen hatten Verständnis für den Auftrag. Sie konnten sich leicht vorstellen, dass das Mädchen nicht ohne Grund davongelaufen war. Es brauchte also Hilfe. Für alle in Sophienlust verstand es sich aber von selbst, Menschen, die in Not waren, zu helfen.
Nach einer Weile erschien Vilena im Park. Denise staunte. Vilena hatte geduscht und sich die Haare gewaschen. Sie fielen nun nicht mehr in Strähnen herunter, sondern umrahmten das feine Gesicht des Mädchens in locker fallenden Wellen. Hose und Blüschen waren zwar noch immer etwas zerknittert, doch merkte man, dass sich Vilena Mühe gegeben hatte, sie so glatt wie nur möglich zu ziehen. Jetzt erst bemerkte man richtig, dass Vilena ausgesprochen hübsch war.
Denise machte sie mit den übrigen Kindern bekannt, von denen Vilena ebenso herzlich begrüßt wurde wie zuvor von Nick. Besonders Sascha und Andrea, die an diesem Tag ebenfalls in Sophienlust waren, begrüßten Vilena sehr herzlich.
Vilena sagte überrascht zu Denise: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, gnädige Frau. Ich weiß vor allem nicht, womit ich das Vertrauen, das Sie mir schenken, verdient habe. Sie haben mich von der Straße aufgelesen, und ich habe Ihnen nicht einmal meinen Namen gesagt. Trotzdem haben Sie mich mitgenommen und mir ein wunderschönes Zimmer gegeben. Außerdem sind alle hier so nett zu mir, als würden sie mich schon lange kennen.«
Denise konnte nicht antworten. Denn Wolfgang Rennert hatte eben seine Musikstunde im Pavillon beendet. Nun stürzte sich die gesamte Schar der kleineren Kinder auf sie, um sie zu begrüßen.
Vilena war sprachlos. Das, was sie hier sah, hatte mit den Vorstellungen, die sie sich von einem Heim gemacht hatte, nichts zu tun.
Es schien vielmehr eine einzige große Familie zu sein, in der jeder den anderen gern hatte.
Nick stellte Vilena seine spezielle Freundin Pünktchen vor. »Das ist unser Pünktchen, Vilena«, sagte er. »Sie hat diesen Namen bekommen, weil sie so viele kleine lustige Pünktchen auf dem Näschen hat.«
Pünktchen gab Vilena mit einem kleinen Widerstreben die Hand. Doch das bemerkte nur Nick, der seine kleine Freundin genau kannte. Immer, wenn ein anderes Mädchen auftauchte, wurde Pünktchen von Eifersucht geplagt, weil sie ständig in der Furcht lebte, jemand könnte ihr Nicks Freundschaft nehmen.
Das junge Ehepaar, Carola und Wolfgang Rennert, näherte sich nun der Gruppe. Auch mit ihnen wurde Vilena durch Nick bekannt gemacht.
Carola betrachtete das Mädchen aufmerksam. Nachdenklich wiederholte sie den Namen: »Vilena, Vilena? Mir ist, als hätte ich deinen Namen schon einmal gehört. Er ist so selten, dass man ihn kaum vergessen kann. Und wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, als hätte ich dich oder ein Bild von dir schon einmal gesehen. Aber das muss Jahre zurückliegen, denn wenn mich nicht alles täuscht, warst du damals noch viel jünger.«
Vilena erschrak zutiefst. Unwillkürlich machte sie eine Bewegung, als wollte sie fliehen. Doch dann fasste sie sich wieder und antwortete in ruhigem Ton: