Esthers Mund stand weit offen. Langsam blickte sie an sich hinab und entdeckte einen roten Fleck auf ihrer weißen Bluse.
Wieder fiel ein Schuss, dann noch einer und noch einer.
Zwei Schüsse verfehlten ihr Ziel, der dritte und vierte trafen Esther in Hals und Brust und warfen sie um. Das Fleischermesser schlitterte über den Boden.
Udo Rennicke hatte seinen blutenden Finger vergessen und blickte zu Karl Rieger, der zu Eis erstarrt war. Es war nie Teil des Planes gewesen, das Mädchen umzubringen. Entsetzt drehte Karl sich zu Thomas um, der immer noch mit ausgestrecktem Arm eine kleinkalibrige Waffe hochhielt. Mit einer kräftigen Rückhand schlug er dem Jungen so heftig ins Gesicht, dass sich dieser um die eigene Achse drehte und zu Boden stürzte.
»Bist du wahnsinnig geworden?! Thomas … Thomas, du verdammter Idiot!«, schrie er ihn an. Dann kniete er sich nieder, packte den heulenden Jungen und drückte ihn an seine Brust.
Steiner schüttelte den Kopf. »So eine verdammte Scheiße.«
Udos Augen zuckten nervös, dann ging er aufgekratzt zu Esthers Leiche hinüber und tat so, als würde er eine Pistole in Händen halten.
»Wow, o Mann! Der Kleine hat die Judensau einfach abgeknallt! Boom, boom und nochmals boom! Richtig geil, der Kleine!«
Blut aus dem verletzen Finger lief seinen Arm hinab.
Thomas versuchte schluchzend, sich zu verteidigen. Er verstand die Welt nicht mehr. Warum waren denn die anderen nicht stolz auf ihn?
»Ich, ich … Was sollte ich denn tun, ich … Es war doch nur eine Jüdin … Es war doch nur eine Jüdin …«
Karl atmete tief durch und rang um Fassung. Er drückte Thomas eine Armlänge von sich weg.
»Woher hattest du die Waffe?«
Thomas’ Lippe und Nase bluteten.
»Aus deiner Wohnung … Ich krieg doch jetzt keinen Ärger, oder, Karl? Ich krieg doch keinen Ärger, oder?«
Karl schüttelte den Kopf. Er holte ein Taschentuch aus seiner Jacke und drückte es Thomas an die blutende Nase.
»Nein … Nein, du bekommst keinen Ärger. Ich mach das schon …«
Langsam beruhigte sich Thomas und nahm das Taschentuch selbst in die Hand. »Bist du jetzt nicht mehr mein Freund?«
Steiner mischte sich ein und unterbrach die beiden.
»Schick den Kleinen jetzt nach Hause wie abgemacht. Wer weiß, wann der alte Jude hier auftaucht. Udo, such dir was und kleb dir die Scheißwunde ab. Danach müssen wir das Mädchen aus dem Weg räumen.«
Karl rappelte sich auf und zog Thomas hoch.
»Thomas, du gehst jetzt wie geplant zu mir nach Hause. Hast du mich verstanden?«
Thomas nickte.
»Du machst keine Umwege, gehst direkt zur S-Bahn und fährst zu mir. Wie wir es besprochen haben – erinnerst du dich? Du rufst niemanden an und gehst auch nicht ans Telefon. Du wartest einfach auf mich, bis ich zu Hause auftauche. Kapiert?«
Thomas nickte mehrmals, während Karl seine Klamotten zurechtzupfte.
»Du musst jetzt stark sein, Thomas. Hast du mich verstanden Kleiner? Wir kriegen das hin, wir kriegen das alles hin … du musst nur genau tun, was wir ausgemacht haben. Verstanden?« Wieder nickte Thomas.
Karls Blick fiel auf das Sturmfeuerzeug auf dem Boden, es war ihm wohl während des Sturzes aus der Tasche gerutscht. Er hob es auf und drückte es Thomas in die zitternden kleinen Hände.
»Ich bin immer da für dich, Thomas, aber du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren. Schaffst du das?«
Thomas’ Stimme versagte, und so nickte er erneut.
Karl löste sich von ihm und schob ihn zur Wendeltreppe.
»Morgen ist alles vorbei – dann reden wir.«
Thomas stieg langsam die Stufen hinab, das Feuerzeug hielt er fest umschlossen. Dabei wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Und vergiss den Stein nicht!«, rief ihm Steiner laut hinterher. Noch immer gab das Sicherheitssystem in regelmäßigen Abständen einen lauten, hohen Warnton von sich.
»Ich weiß nicht, Steiner, vielleicht wäre es besser, der Junge bleibt hier … Der macht sich doch in die Hosen, der kleine Scheißer.«
»Halt’s Maul, Udo. Der Kleine schafft das schon.«
Wie auf ein Zeichen brach der Warnton ab und der Touchscreen leuchtete grün auf.
DOOR LOCKED – SECURITY SYSTEM RESTORED
EPHRAIM II
SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010, 13.30 UHR
Der Jaguar erreichte den Schotterweg, der den Hügel hinauf zum Turm führte. Zamir bremste den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit ab und zwang sich, ruhig zu bleiben.
Wahrscheinlich ist meine Angst unbegründet, wahrscheinlich liegt Esther oben auf der Couch und ist mit einem Buch in der Hand eingeschlafen, wie immer am Sabbat nach der Synagoge, dachte er. Aber wenn doch etwas passiert sein sollte, wollte er auf keinen Fall Verdacht erwecken.
Die Wolkendecke, die sich träge über dem Turm bewegte, riss hin und wieder auf. Dann brach die Sonne für wenige Sekunden durch und tauchte den Hügel in warmes, friedliches Licht, bis sich wieder eine Wolke vor die Sonne schob.
Ephraim parkte den Jaguar nicht wie üblich vor dem Portal, sondern an der Rückseite des Turms, wo sich eine Garage befand, von der aus ein separater Zugang direkt in den Turm führte. Das Rolltor öffnete und schloss sich automatisch.
Seligmann!, schwirrte es ihm durch den Kopf. Ich war zu schroff. Diese arme Frau, die sonst so viel Zivilcourage gezeigt hat, konnte absolut nichts dafür. Sobald ich mit Esther gesprochen habe, muss ich mich bei ihr entschuldigen.
Ephraim tippte den Zahlencode in ein Ziffernfeld neben der Wand. Lautlos schwang daraufhin die schwere Stahltür auf. Kaum war Ephraim hindurchgegangen, schloss sich die Tür wieder und es schalteten sich automatisch die Glühbirnen ein, die das steinerne Treppenhaus in ein kaltes Licht tauchten.
Er war jetzt ganz unten im Turm, eine Etage tiefer als der Haupteingang, der vom Portal aus in den Turm führte. Hier gab es keine Fenster, keine Wärme, nur Mauern und drei graue Holztüren, die rund um den steinernen Treppenaufgang in geräumige Kammern führten. Ephraim nutzte sie als Abstellräume, achtete aber immer darauf, dass die Türen verschlossen waren. Er überprüfte sie kurz und blickte dabei das schmale Treppenhaus hinauf. Es war kein Mucks zu hören.
Er rief laut: »Esther, ich bin in fünf Minuten bei dir!«
Gleichzeitig öffnete er mit einem Schlüssel eine der Holztüren. Das Licht musste er hier von Hand anknipsen. Eine Neonröhre surrte, blitzte zweimal kurz auf und erhellte den fensterlosen Raum. Die Decken waren ungewöhnlich niedrig und ließen sich mühelos mit der Hand berühren. Es dauerte eine Weile, bis Ephraim in einer Kiste fand, wonach er suchte. Es war eine Sprühdose, auf der »Felgenreinigung« stand. Er schaltete das Licht wieder aus, schloss die Tür und stieg die steinerne Treppe empor.
Im Hochparterre sah sich Ephraim kurz um, aber alles war wie immer. Auch die Eingangstür am Portal war ordnungsgemäß verschlossen. Esthers Mantel hing an der Garderobe. Langsam entspannte er sich. Wahrscheinlich war seine Angst vollkommen unbegründet …
Da fiel sein Blick auf einen faustgroßen Kieselstein, der neben den geschlossenen Flügeltüren lag. Sein Puls begann schneller zu werden. Für einen unbedarften Besucher mochte es nur ein Kieselstein sein, aber Ephraims geschulter Verstand schlug sofort Alarm.
O Gott, Esther, wieso habe ich dich allein gelassen?
Er kämpfte gegen den Drang an, sofort die Treppen hochzustürmen.