Subliminal. Thorsten Oliver Rehm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Oliver Rehm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783920793498
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reden – was auch immer sie schon wieder wollte, als sie ihn eine Minute zuvor unten abzufangen versucht hatte. Ich bin fünfzehn, nerv nicht, Alte! Kurz darauf war er eingeloggt.

      Die nächsten vier Stunden hatte er Zeit, das neue Level zu erreichen. Das Level! Marc, dieser Vollpfosten, war seit Tagen drin. Warum war er selbst noch nicht so weit? Die letzten Tage waren nicht gelaufen wie geplant, weder hier im Game, noch in seiner »Rolle«, die er in der aktuellen Staffel der Serie übernommen hatte, entwickelten sich die Dinge so, wie er es erwartet hatte. Wenigstens den heutigen »Außenauftrag« hatte er erledigt, das brachte ihm Zusatzpunkte. Heute war der Tag!

      Hunderte brutal niedergemetzelte virtuelle Spielgegner und euphorisch klingende Triumphmelodien später ertönte nach drei Stunden lautstark die langersehnte Siegesfanfare, er hatte das nächste Level erreicht. Jep! Jetzt bin ich gespannt, was auf mich wartet, dachte Tom und lehnte sich zurück, ungeduldig mit den Füßen wippend.

      Da blinkte das Kurierbriefsymbol! Er öffnete die Nachricht. Ups! Alter… krass… Er musste Marc anrufen und ihn fragen, welche Wahl der getroffen hatte und ob er sich auch so entscheiden sollte. Voll krass…

      Tom sah auf die Uhr. Er hatte Zeit aufgeholt. Nach dem Telefonat mit Marc würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, um an seiner Rolle mitzuarbeiten. Heute war es noch möglich, Vorschläge für die nächste Folge einzureichen. Seine Ideen wurden von Tag zu Tag besser, und er konnte es kaum erwarten. Diese Staffel versprach actionreicher und aufsehenerregender zu werden als alle Staffeln zuvor. Hast Du deine Hausaufgaben heute schon gemacht?, hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf. Er grinste. »Und ob«, raunte er.

      ♦

      Trotz Stau kam Natascha pünktlich zu ihrem Termin. Kurzfristig hatte sich der renommierte Neurowissenschaftler, Hirnforscher, Psychologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. Dr. Hubert Stenzel bereiterklärt, Natascha zu empfangen. Wenn er – eine Koryphäe auf seinem Gebiet – keine Antworten auf ihre Fragen hätte, wer dann?!

      »Frau da Silva, kommen Sie herein, setzen Sie sich, bitte!« Stenzel zog Natascha einen Stuhl heran, wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Er setzte sich.

      Natascha wählte einen Espresso, den kurz darauf ein junger Mann hereinbrachte. »Vielen Dank, Herr Professor Stenzel, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen. Ich weiß das zu schätzen.«

      »Gern. Sie hatten wirklich Glück. Die nächsten Wochen bin ich fast nur unterwegs. Wie kann ich Ihnen konkret behilflich sein?«

      Der Professor, ein etwa sechzigjähriger Herr mit schütterem grauem Haar, einer schwarz umrandeten Brille und weißgrauem Vollbart, verschwendete keine Zeit mit Small-Talk, was Natascha recht war, sie hatte noch einen weiteren Termin, eine Stunde Fahrtzeit entfernt, bei einer Fachkollegin von Stenzel. Natascha hatte sich vorgenommen, sich in den nächsten Tagen ein Meinungsbild darüber zu machen, ob an ihrer Wahrnehmung, dass das Miteinander in der Gesellschaft sich gegenwärtig stark veränderte, etwas dran war, wie das die Fachleute sahen und welche Gründe sie vermuteten. In kurzen Zügen schilderte sie, worum es ihr ging, an was sie arbeitete, und was sie sich von dem Gespräch erwartete.

      »Empathie. Ein gutes Stichwort, Frau da Silva. Empathie. Eine sinnvolle Fähigkeit, die uns Menschen in die Wiege gelegt wurde.« Stenzel lehnte sich zurück. Sein üppiger Bauch präsentierte sich jetzt in voller Pracht. Er hielt einen Moment inne. »Rücksichtsvolles Miteinander, sich um andere kümmern, für jene da sein, die uns brauchen, für Kinder, für ältere, pflegebedürftige oder einfach für schwächere Mitmenschen und Schmerz, Leid, Trauer mit anderen zu teilen, ja darauf überhaupt zu reagieren, all das wäre ohne die Fähigkeit zur Empathie schlicht unmöglich.« Wieder eine kurze Pause, als suche er nach den richtigen Worten, einem Laien etwas klarzumachen. »Wie kommt es nun dazu, dass sich dieses natürlich vorhandene Empfinden eines Menschen ändert? Die Ursachen sind komplex. Teils ist es auch genetisch bedingt, dazu später. Vereinfacht gesagt: im Frontalhirn schrumpfen jene Areale, die für die Kontrolle unseres Verhaltens und unserer Emotionen zuständig sind. Ist der Anteil dieser Hirnbereiche gering oder wird er zunehmend geringer, dann nimmt bei der betreffenden Person die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, ab. Übrigens nimmt auch die Fähigkeit ab, Aggression zu kontrollieren, und Aggression tragen wir ja mehr oder weniger alle in uns, zumindest zeitweise und in unterschiedlicher Intensität. Beide Verluste spielen in Folge negativ ineinander. Emotionen haben für unser Verhalten ohnehin eine immense, ganz grundlegende Bedeutung, dies einmal vorweg. Wie gesagt, die Prozesse sind komplex. Eine Schlüsselrolle beim Verlust oder der gravierenden Abnahme der Fähigkeit zur Empathie spielen dabei allerdings die Spiegel-

      neuronen. Den Begriff haben Sie schon mal gehört, nehme ich an.«

      »Sicher. Eine Doktorarbeit darüber zu schreiben, würde allerdings schwer.« Natascha lächelte. Mit einer Handbewegung signalisierte sie dem Professor weiterzureden.

      Der schmunzelte. »Keine Angst, ich werde nicht zu sehr in Fachchinesisch verfallen. Aber Sie sind schließlich zu mir gekommen, um Veränderungen, die man wahrnehmen kann, besser zu verstehen.« Er neigte seinen rundlichen Kopf und zog die buschigen Augenbrauen hoch, es wirkte wie eine Entschuldigung. »Nun, die Spiegelneuronen arbeiten im Gehirn wie ein biochemisches Resonanzsystem, es versetzt uns in die Lage, die Gefühle anderer nachempfinden zu können. Durch die Spiegelneuronen werden Gefühle unseres Gegenübers für uns selbst spürbar – natürlich nicht so intensiv, wie es der Betroffene selbst empfindet. Wobei es auch Menschen gibt, denen ihre Anteilnahme mehr zusetzt als dem Leidenden selbst, aber das ist ein anderes Thema. Zurück zur Spiegelung: Beobachten Sie jemanden, der schwer verletzt ist, dann leiden Sie irgendwie auch ein bisschen – habe ich Recht?«

      »Sicher. Und man möchte auch sofort helfen. Ist doch normal.«

      »Dann ist es um Sie gut bestellt, Frau da Silva.« Er lächelte. Dann aber wurde seine Miene ernster. »Leider gibt es das ja auch anders.«

      Unwillkürlich schossen Natascha schockierende Schlagzeilen in den Kopf. Natürlich gab es das auch anders!

      »Das eigentliche Programm – um den Begriff mal so zu verwenden, denn unser Gehirn ist eine Art Super-Computer – ist dies: Jemand lächelt Sie an, und Sie lächeln zurück. Wir gähnen selbst, wenn andere gähnen. Spricht aus dem Gesicht des Gegenübers purer Schmerz, grinsen wir nicht, nein, wir werden unwillkürlich selbst ernst, blicken sogar schmerzverzerrt drein. Wir spiegeln die Reaktionen unseres Gegenübers. Sind Sie selbst Mutter?«

      »Ja, ich habe eine fünfjährige Tochter.« Natascha ahnte, worauf der Professor hinauswollte. Ja, das wäre wahrlich ein treffendes Beispiel.

      »Schon wenige Tage nach der Geburt«, fuhr der Professor fort, »spiegelt Ihre Tochter bereits Ihre Gefühle, sie reagiert, verändert ihre eigene Mimik, lacht oder weint, zeigt Erstaunen oder Neugier, und das alles ohne Denkprozess. Es ist die biologisch vorhandene Fähigkeit des Menschen, mit seiner Umwelt in emotionale Resonanz zu treten. Aber: Die Aktivität der Spiegelneuronen entwickelt sich keinesfalls von allein und nur aufgrund genetischer Disposition. Wir Menschen brauchen vom ersten Tag an ein Gegenüber, um diese speziellen Gehirnzellen zum Blühen zu bringen. Neugeborene benötigen den Austausch mit anderen Menschen, sie benötigen Zuwendung, bestenfalls die Mutter, deren Emotionen sie wahrnehmen können. Erst dann werden die Zellverbände aktiviert und die Entwicklung der Spiegelneuronen und deren vollständige Vernetzung im Gehirn ausgelöst. Dieser Entwicklungsschritt ist im Alter von ungefähr drei oder vier Jahren abgeschlossen, was Sie daran erkennen, dass das Kind nun seine Eltern zu trösten versucht, wenn diese traurig sind – und das, obwohl es rein intellektuell natürlich noch gar nicht begreift, was da gerade abläuft. Sie haben das sicher selbst erlebt.«

      »Das ist äußerst interessant, Herr Professor Stenzel. Ansatzweise ist mir das bekannt, nicht aber im Detail. Was genau führt dann aber zur Abstumpfung des Mitgefühls, was bei uns Menschen anscheinend zunehmend passiert, so empfinde ich persönlich es zumindest. Wie sehen Sie das? Ist meine Beobachtung, dass uns Menschen diese Fähigkeiten mehr und mehr verloren geht, zutreffend? Das ist nun sehr pauschal formuliert. Klar gibt es zahlreiche Abstufungen, auch ist sicher nicht jeder betroffen, nehme ich an. Aber sehen Sie – wissenschaftlich betrachtet – eine Zunahme dieses Phänomens?«