Subliminal. Thorsten Oliver Rehm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Oliver Rehm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783920793498
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Und in den Verträgen wurde ihnen versichert, dass sie physisch und psychisch keine Schäden davontragen würden und die Risiken überschaubar waren – wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen. So, wie es eben ist, wenn man als Proband bereit ist, sich Wissenschaft und Forschung zur Verfügung zu stellen. Vielleicht hätte er es bleiben lassen sollen…

      Was genau die Wissenschaftler hier veranstalteten, wusste er auch nicht. Wenn er es wüsste, würde es die Ergebnisse beeinflussen, weil er nicht mehr neutral an den Versuchen teilnehmen könne, hieß es. Das leuchtete ihm sogar ein. Dennoch gefiel es ihm nicht. Er war es nicht gewohnt, die Kontrolle über sein Leben aus der Hand zu geben. Und das tat er seit ein paar Wochen. Er hätte wenigstens gerne gewusst, wofür. Doch keiner der Probanden war eingeweiht. Auch er nicht.

      Einzig hatte er mitbekommen, dass er und die anderen in vier Versuchsgruppen unterteilt waren. Wobei das Wort Gruppen übertrieben war. Team traf es besser. Jedes Team bestand aus gerade mal zwei Personen; einer Frau und einem Mann, die allerdings zeitlich versetzt in der Unterwasser-Station tätig waren, sodass immer entweder vier Frauen oder vier Männer gleichzeitig unter Wasser beziehungsweise an Land waren.

      Die Pillen, die sie nehmen mussten, sahen für alle gleich aus. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass es verschiedene Sorten gab. »Knöpfe«, so nannte er die Pillen wegen ihres Aussehens, denn sie waren groß wie ein Hemdknopf, hatten zwei kleine Vertiefungen auf der einen Seite, die aussahen wie Knopflöcher. Vielleicht lag er mit seiner Einschätzung auch falsch und es war immer dasselbe Mittel. Auch möglich, dass alle vier Gruppen Placebos bekamen. Oder die Pillen waren nur Ablenkungsmanöver für die Psyche. Immerhin standen sie hier unten, so eng zusammengepfercht, unter ungeheurem Druck – im übertragenen Sinne. Physisch standen sie tatsächlich unter hohem Druck – nämlich dem Umgebungsdruck. Hier unten, in der Tiefe des Meeres, in diesem unterseeischen Forschungslabor, diesem kleinen, utopisch aussehenden Objekt unter Wasser, war ihre Körpergewebe maximal mit Stickstoff gesättigt, den Tauchgängen und dem Aufenthalt unter Wasser geschuldet. Die Auftauchphasen, die nicht im Wasser, sondern in einer Druckkammer stattfanden, dauerten entsprechend lange. Die Vorfreude darauf war trotzdem groß, denn es bedeutete jedes Mal das Ende der zweiwöchigen Schicht unter Wasser und die willkommene Unterbrechung davon an Land.

      Vielleicht ging es in Wirklichkeit aber nur darum, was sie hier unter Wasser taten. Um die Aufgaben, die sie von morgens bis abends zu erfüllen hatten, die Tests, die regelmäßig zu bearbeiten waren, die Fragen, die sie dabei zu beantworten hatten. Vielleicht ging es darum, welche Auswirkungen es auf Körper und Befinden hatte, dass sie wochenlang unter Druck verweilten und ihr Körper daher bis zum Anschlag mit Stickstoff gesättigt war. Oder waren es gar Tests in soziologischer Richtung? Untersuchungen, wie sich das gemeinsame Leben auf engstem Raum und unter ungewöhnlichen Bedingungen nach und nach veränderte und welche Auswirkungen es auf das Zusammenleben im Habitat, aber auch auf die Freizeit hatte?

      Es hätte um alles gehen können. Immerhin standen nicht nur psychologische und neurologische Wissenschaftler und Forscher hinter dem Ganzen, sondern auch Ärzte aus dem Bereich der Humanmedizin und sogar Physiker. So viel hatten sie erfahren. Viel war das nicht.

      »Eigentlich mutig, als Proband einfach alles so zu unterschreiben. Oder einfach auch nur total bescheuert! Wer weiß das schon?!«, Seidel gab einen seltsamen, grunzenden Laut von sich. »Was soll’s!« Mit einer ruckartigen Bewegung katapultierte er die Pille in seinen weit geöffneten Mund und schluckte den Knopf runter. »Bin ich froh, bald wieder oben zu sein. Du nicht?« Seidel blickte zu Tatzer rüber. Doch der war schon wieder geistesabwesend in sein Computerspiel vertieft und reagierte nicht. Seidel zog die Augenbrauen hoch und schüttelte missmutig den Kopf. Die beste Gesellschaft hatte er hier unten nicht. Aber bald hatte er wieder eine Phase Freizeit… freie Zeit… in ihrem Fall quasi die befreite Zeit, denn es fühlte sich langsam wie in einem Gefängnis an! Stinklangweilig hier unten! Nur das Tauchen war aufregend! Aber ansonsten – ätzend! Wahrscheinlich würde er hier bald einen Koller bekommen…

      Vielleicht waren die Pillen auch gegen so etwas? Psychopharmaka? Hm. In Verbindung mit Tauchen? Schwer vorstellbar, dass Ärzte das durchgehen ließen. Mögliche Nebenwirkungen wären viel zu riskant, und die Tauchgänge waren anspruchsvoll.

      An den Tagen an Land mussten sie die Medikamente weiternehmen, das war die strikte Anweisung. Nicht nur bezüglich der Pillen gab es Vorschriften, sondern auch bezüglich der Aktivitäten während des Aufenthalts an Land. Das Kuriose daran war, dass sie außerhalb des Unterwasserhabitats nicht nur machen durften, was sie wollten – sie sollten es sogar! Sie sollten darauf achten, ihre Bedürfnisse auszuleben, gut und gerne alle, welcher Art auch immer. Das sei wichtig, hatte es gleich zu Beginn des Projekts geheißen. Es sei von großer Relevanz, dass sie über die vier Monate ihrem inneren Drängen und ihren Gelüsten folgten und intensiv dem nachgingen, wozu sie Lust hatten. Sie sollten sich »treiben lassen«, »loslassen«.

      Wie im Urlaub sollten sie sich fühlen, sich frei sehen von Verpflichtungen, frei von Konventionen, frei von Normen, möglichst auch von jenen, die sie sich sonst selbst auferlegten oder die ihnen in der Regel aus ihrem Umfeld auferlegt wurden. Klang genial. Ein Traum!

      Wie das genau gemeint sei, hatte Seidel einen der Ärzte gefragt, offenbar ein Psychologe. Auch wenn es ungewöhnlich klinge, es gehe darum, dass er und alle anderen Probanden im Zeitraum der Versuche sie selbst seien, so sehr, wie nur irgendwie möglich, hatte er als Antwort bekommen. Das sei wichtig für die Betrachtung gewisser Daten und Werte, deren Verlauf man beobachte. Einzige Bedingung an Land: Ein detailliertes Protokoll des Tages erstellen, jeden Tag, eine Art Tagebuch führen, auch wenn sie es für blödsinnig hielten, es sei Teil der Forschung und wichtig. Und noch etwas hatte der Arzt hinzugefügt: Sie sollten sich während des Aufenthalts an Land möglichst nicht mit anderen Probanden treffen. Das würde die wissenschaftlichen Ergebnisse verfälschen.

      Da brauchten sie keine Sorge haben, Seidel hatte nicht vor, auch noch seine Zeit an der Oberfläche mit diesen Döseln zu verbringen. Wobei damit offensichtlich nicht nur die Probanden-Kollegen aus seinem Habitat gemeint waren, sondern Probanden aus allen Laboren des Experiments. Man solle deswegen vor Ort bleiben und dürfe nicht herumreisen.

      Als wenn Seidel jemandem über den Weg laufen könnte, der Versuchskaninchen war wie er, nur an einem anderen Ort. Während des Aufenthalts im Unterwasser-Habitat wiederum sollten die Probanden sich mit genau den Dingen beschäftigen und die Aufgaben erledigen, die man ihnen auftrug, ohne Ausnahme. Hier müsse der Alltag, so hieß es, anders als an Land in sehr eng gesetzten Grenzen ablaufen. Ebenso beim Tauchen, was sich ja aber sowieso von selbst verstehe. Und außerdem dürften keine Aufgaben innerhalb der vier Gruppen ausgetauscht werden, weder im Habitat, noch während des Tauchens. Das sei enorm wichtig, und die Einhaltung würde auch streng überwacht und kontrolliert. Bei einem Verstoß würde man mit sofortiger Wirkung vom Projekt entbunden werden – der Schlussbonus, ein Batzen Geld, den Seidel unbedingt benötigte, wäre dahin. Wenn seine Tauchschule nicht schon die dritte Saison in Folge miserabel gelaufen wäre, hätte er über den Winter nicht so einen Drecksjob annehmen müssen. Aber die Bezahlung war gut, sehr gut. Und die Sache war einfach, vielleicht zu einfach, wenn er genauer darüber nachdachte. Schon seltsam… Egal!

      Seidel ließ erneut den Blick durchs Habitat schweifen, von einem Probanden zum anderen. Er wurde einfach nicht warm mit diesen Jungs. Komische Typen. Einer seltsamer als der andere. Aber was soll‘s!

      »Heute und morgen noch, dann ist es hier unten erst mal wieder vorbei«, rief Seidel durch den Raum, der gerade mal etwa dreißig Quadratmeter groß war. Die anderen Räume im Habitat waren viel kleiner, von den Schlafkammern ganz zu schweigen, die waren praktisch übergroße Särge. »Eine Woche an Land, yeah!« Gute Laune zog auf, aber nur bei ihm, die anderen drei gaben sich emotionslos wie immer. Mit diesen Typen hier zu sein, war wie in einer Gruft zu verweilen. Was war nur los mit denen?! Legt Euch einfach in die Kojen – dann seid ihr schon gleich im Sarg, ihr Scheintoten! Genervt nahm Seidel seine Spielekonsole zur Hand und tat es seinen Kollegen gleich, die allesamt seit Stunden in ihre Game-World eingetaucht waren. Als wäre die Welt hier unten nicht schon monoton genug, hatte man ihnen auch noch jede Abwechslung verboten. Es war leider nicht erlaubt, sich als Pärchen für die Forschungstests anzumelden. Das hätte zumindest ein bisschen für Abwechslung gesorgt. Er lachte in sich hinein. Was blieb,