Natascha sagte kein Wort. Das war harter Tobak.
Als hätte der Professor ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Alles hängt ab von der Dosis, der Intensität, der Dauer und der Häufigkeit der Reize. Hinzu kommen die genetische Disposition und das Umfeld, in dem man groß geworden ist, sowie das Umfeld, in dem man sich aktuell bewegt. Und dann können auch bisher völlig unbeachtete Faktoren eine gravierende Rolle spielen. Aber Forschungen in diese Richtung sind noch nicht so weit.« Er hielt einen Moment inne – zu lange für Nataschas Geschmack. »Und vergessen wir den Faktor Sucht nicht.«
»Was genau meinen Sie damit?«, hakte Natascha nach. Da war etwas in Stenzels Stimme, das sie aufhorchen ließ. Als lägen irgendwo zwischen seinen Sätzen endlich Informationen, die Neues, vielleicht sogar Spektakuläres aufs Tablett brachten… Die Forschungen in dieser Richtung sind noch nicht so weit… Aber er wollte offensichtlich nicht mehr rausrücken, warum auch immer, und um Verfestigung von Hirnstrukturen durch permanente Wiederholung, um Suchtpotenzial im Allgemeinen konnte es ihm nicht gehen. Bestenfalls hing es mit dem, auf das er nicht eingehen wollte, lose zusammen, das würde auch seinen schnellen Gedankengang zur Sucht erklären. Wobei: Zwang und Triebkraft gehörten immer irgendwie zu den Gedanken eines Hirn- und Verhaltensforschers. Das konnte es also allein nicht sein, und dazu hatte er bei ihrem Treffen bereits Stellung bezogen.
»Meine Thesen hierzu sind noch zu lückenhaft. Vergessen Sie die Bemerkung einfach.« Stenzel verstand sein Fach. Er hatte genau wahrgenommen, dass Natascha nicht den letzten Satz meinte. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Sie auf ein anderes Mal vertrösten, ich bin heute sehr eng getaktet. Lassen Sie mir die Abschnitte, in denen Sie mich zitieren, bitte zur Prüfung zukommen! Mir ist wichtig, nicht falsch verstanden zu werden. Ich habe da so meine Erfahrungen mit Journalisten. Nichts gegen Sie persönlich – Sie verstehen?«
»Das hätte ich ohnehin getan, Herr Professor.«
»Gut. Danke. Sollten Sie noch Fragen haben, mailen Sie mir am besten. Ich bin eher schwer zu erreichen, Sie hatten bisher Glück.«
Redete sie es sich ein, oder hatte sie ein erleichtertes Seufzen vernommen?
»Das mache ich, Herr Professor Stenzel. Ganz bestimmt sogar.«
♦
Zeichen der Zeit
Barash Tamm war auf dem Sprung zur Spätschicht, doch fünf Meter vor seinem Auto blieb er verdutzt stehen. Jemand hatte kackfrech in zweiter Reihe neben seinem geparkt. Gerade jetzt, wo er es eilig hatte, er war spät dran.
Er blickte sich um, vielleicht war der Fahrer ja noch irgendwo. Da sah Barash drei Haustüren weiter eine Person, bei der es sich vielleicht um den Fahrer handelte. Er spurtete los und rief bereits im Laufen: »Hallo! Entschuldigung! Warten Sie bitte einen Moment!« Als Barash den Mann nahezu erreicht hatte, drehte der sich auch schon um. Ein schlaksiger Typ, vielleicht um die dreißig, Barash kannte ihn nicht. »Danke! Ist das Ihr Wagen dort?« Außer Atem zeigte Barash zu dem Fahrzeug, das ihn blockierte. Der kurze Spurt hatte seinen Puls hochgetrieben, in Form war er offensichtlich nicht mehr.
»Ja. Warum?«, fragte der Mann beiläufig oder vielmehr gleichgültig, als ahnte er gar nicht, was Barash von ihm wollte, oder als interessierte es ihn einfach nicht und dieses Auto stünde da, wo man ein Auto eben hinstellte.
»Sie haben mich leider zugeparkt. Könnten Sie bitte kurz wegfahren? Ich muss zur Arbeit und hab‘s sehr eilig«, bat Barash ihn, ruhig und freundlich. Auch er hatte schon mal in zweiter Reihe geparkt, um schnell etwas zu erledigen, wer machte das nicht mal… Wenigstens war der Fahrer in der Nähe geblieben. Alles gut.
»Warten Sie, bis ich wieder da bin«, antwortete der Mann und drehte sich wieder zur Tür. »Ich hab‘s auch eilig. Muss nur schnell an den PC von Sebastian«, er zeigte auf das Klingelschild des Hausbesitzers, »wird eh schon knapp. Dauert nicht lang. Wird auf ein paar Minuten ja sicher nicht ankommen.« Der Mann klingelte, dazu klopfte er mehrfach, heftig, dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Basti! Ich bin‘s, beeil dich!«
Für ein paar Sekunden war Barash völlig perplex. Und als wäre er nicht schon verwirrt genug, hatte er obendrauf noch eine Art Déjà-vu. Es war verrückt: Als er vor ein paar Wochen im Urlaub auf Korsika gewesen war, hatte ein Mann eine Reinemachefrau des Hotels zur Schnecke gemacht, weil sie ihm nicht schnell genug sein Zimmer aufgesperrt hatte. Der Gast hatte sich versehentlich ausgesperrt und brauchte dringend seinen PC. Irgendwie ähnelte diese Situation hier jener, die er beim Vorbeilaufen im Gang der Hoteletage mitbekommen hatte. Sachen gibt‘s! Barash fing sich wieder, kam gedanklich zurück ins Hier und Jetzt. Wahrscheinlich hatte ihn das Hämmern an die Tür aus seiner Starre gerissen. Der Ignorant, der ihn zugeparkt hatte, klopfte immer härter an die Tür, er hatte es offensichtlich wirklich eilig. Das war trotzdem kein Grund sich so zu verhalten! Es war doch selbstverständlich, erst das falsch geparkte Auto wegzufahren – es sei denn, es ginge um Leben und Tod! Aber das war hier ja wohl nicht der Fall.
Barash riss nun allmählich der Geduldsfaden. In forderndem Ton sagte er: »Ich weiß nicht, ob Sie mich nicht verstanden haben?! Ich – muss – zur – Arbeit! Und zwar jetzt! Ich will losfahren! Sofort! Nicht in ein paar Minuten. Was soll denn das?«
Barash machte einen Schritt auf den Mann zu. In dem Moment öffnete sich die Tür. Der Ignorant verlor kein Wort, nicht mal für die Begrüßung, und wollte ins Haus.
Barash machte noch einen Satz nach vorne, um den Mann am Arm festzuhalten. »Sie bleiben schön hier!«, fuhr er ihn barsch an.
Alles ging verflixt schnell, Barash konnte nicht mehr ausweichen. Der Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Dann knallte die Tür zu.
♦
Mallorca
Joachim Seidel und sein Tauchpartner Manfred Tatzer tauchten nach links weg, um an dem für sie vorgesehenen Platz unter Wasser ihre heutigen Aufgaben zu erfüllen. Wie jeden Tag bestanden diese aus der Entnahme von Proben an unterschiedlichen Stellen des Riffs sowie aus der Beobachtung der Fischpopulation. Sinnvolle Arbeiten, keine Frage. Was es allerdings mit den Fragen auf sich hatte, die sie später, wenn sie wieder in der Station waren, beantworten mussten, blieb ihm ein Rätsel, wie so vieles hier. Fragen wie: »Beschreiben Sie Ihren Gefühlszustand bezogen auf die Zeiten, in denen Sie im Wasser arbeiten. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Was empfinden Sie für die Tier- und Pflanzenwelt, die zu schützen Sie mit den Untersuchungen helfen?«, und eine Menge anderer Schwachsinn.
Er selbst stellte sich eigentlich nur zwei Fragen: Was zum Geier das alles mit den Medikamenten und den Verhaltensregeln während der Landgänge zu tun hatte? Und warum Elektroden zur Messung diverser Vitaldaten und offensichtlich auch zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität an seinem Körper angebracht waren? Wo es doch hier offensichtlich um Umweltforschung ging, nicht um Beobachtung eines Menschen unter für ihn unnatürlichen Bedingungen und Isolation? Letzteres würde für ihn Sinn machen, einer gewissen Logik folgen, wenngleich es nicht die Einnahme der Medikamente erklärte.
Vielleicht erfüllten die Probanden hier unten ja auch verschiedene Zwecke gleichzeitig? Vielleicht war es eine Kombination verschiedener Forschungen? Meeresbiologische, humanmedizinische und psychologische Tests? Der Punkt, dass sie jeweils viele Tage am Stück hier unten verweilten und sie dadurch psychisch und physisch in einer ungewöhnlichen und auch extremen Situation waren, musste auf jeden Fall eine Schlüsselrolle spielen. Warum sonst tauchte man nicht einfach drei oder vier Mal am Tag ab und lebte die restliche Zeit ganz normal an Land?