Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Popp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650004
Скачать книгу
und dann noch einmal und immer wieder, und er hörte nicht mehr auf damit, bis ihr Name sich anhörte, als würde ein mächtiger Magier einen Zauberspruch murmeln.

      Unter Palmen

      »Als wären sie Außerirdische.«

      Sein schneeweißer Bart wucherte so dicht, dass, selbst wenn er sprach, nichts von seinem Mund zu sehen war. Alf hatte schon viel von Martin Walls gehört und gelesen – wer nicht, der sich mit Kraken beschäftigte? – und sich immer gewünscht, einen seiner legendären Vorträge zu besuchen. Walls galt als die Koryphäe, was Kraken betraf. Er war Brite, 80 Jahre alt – das hatte er zu Beginn seines Vortrags erwähnt, als er einen Witz über sein hohes Alter gemacht hatte – und trug einen Cowboyhut.

      Alfs Sitznachbar stieß ihn an und fragte ihn in gebrochenem Englisch, was Walls gerade gesagt habe. »Dass das Genom der Kraken im Vergleich zu dem anderer Wirbelloser völlig durcheinander ist«, flüsterte Alf, »so, als hätte man es in einen Mixer gesteckt. Und dass es deshalb auch keine genetische Verwandtschaft mit irgendwelchen anderen Tieren gibt. Als wären Kraken Außerirdische.«

      »Tenks«, sagte der Italiener.

      »Non c’è di che!«, flüsterte Alf dem kleinen, schlanken Mann mit der eleganten schwarzen Brille zu. Alf und Paolo kannten sich seit dem Studium. Damals war Alf über ein Stipendium nach Neapel gekommen. Er hatte geplant, ein Semester am Ozeanischen Institut der Universitá Federico II. zu bleiben, geworden waren es schließlich zwei Jahre. Zum ersten Mal liefen sich Alf und Paolo in der Vorlesung von Rachel Caldwell über den Weg, und die war es auch, die ihr Interesse für Kraken weckte. Caldwell hatte erzählt, dass Kraken neben ihrem zentralen Gehirn noch voneinander unabhängige Untergehirne in jedem ihrer acht Fangarme besaßen.

      »Wenn der Krake schwimmt, arbeiten die Arme perfekt zusammen, und wir versuchen herauszufinden, wie die Kommunikation zwischen diesen Untergehirnen abläuft«, hatte Caldwell gesagt. Dann hatte sie eine Pause gemacht, einen tiefen Atemzug lang und mit schmalen Augen Alf, Paolo und die anderen Studenten, einen nach dem anderen angesehen, als prüfe sie, ob sie ihnen vertrauen konnte.

      »Was mich noch mehr interessiert«, sagte Caldwell dann, »ist aber die Frage: Gibt es Momente, in der sich die Arme übereinander wundern und der Krake sich selbst eine Überraschung ist?«

      Alf und Paolo verstanden sich auf Anhieb, so wie sich Menschen mögen, die ein Interesse teilen. Und sie blieben auch, nachdem Alf Neapel wieder verlassen hatte, in engem Kontakt. Sie besuchten einander abwechselnd und reichten auch mehrmals gemeinsame Forschungsprojekte ein, die zweimal tatsächlich bewilligt wurden. Einmal verbrachten sie sechs Wochen in der indonesischen Celebessee, wo sie den Coconut Octopus beobachteten, und einmal acht Wochen im israelischen Eilat, wo sie Verhaltensexperimente mit den Männchen des Weißgefleckten Oktopus durchführten.

      Nach dem Vortrag gingen Alf und Paolo zu Martin Walls und ließen sich ihre völlig zerlesenen Exemplare von Acht Arme für ein Halleluja signieren, das mittlerweile 25 Jahre alte Standardwerk über Kraken. Danach verließen sie das in die Jahre gekommene neoklassizistische Gebäude der Stazione Zoologica Anton Dohrn. Paolos Wohnung lag in Chiaia, keinen Kilometer entfernt, und sie machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Unterwegs kehrten sie noch in einer Bar ein, tranken, an die Theke gelehnt, einen Campari Soda und kauften anschließend in einem Alimentari fürs Abendessen ein.

      Paolo lebte seit seiner Studentenzeit in derselben Wohnung. Damals in einer WG, mittlerweile waren aber alle Mitbewohner ausgezogen und er hatte die drei Zimmer für sich allein. Von der alten Einrichtung hatte Paolo nur den großen Küchentisch behalten, ein altes Familienerbstück, an dem er mit Vorliebe kochte oder arbeitete. Beim Kochen mochte er es, wenn die aufgeschlagenen Bücher herumlagen, und beim Lesen, wenn es nach Knoblauch und Basilikum roch.

      Als sie beim Essen saßen, leuchtete das Display von Alfs Smartphone auf. Er schmunzelte beim Lesen der eingegangenen SMS und tippte dann eine lange Antwort.

      »Wem schreibst du?«

      »Einer früheren Klassenkollegin«, sagte Alf. »Wir sind uns vor ein paar Tagen zufällig über den Weg gelaufen.«

      Nach dem Essen räumten sie den Tisch ab und holten ihre Aufzeichnungen und Laptops. Seit gut zwei Jahren führten sie unabhängig voneinander ihre Experimente durch, verglichen regelmäßig ihre Ergebnisse und schrieben an einem wissenschaftlichen Artikel, der nur langsam länger, dafür aber immer spannender wurde. Es ging noch immer um Caldwell und ihren letzten Satz über den von sich selbst überraschten Tintenfisch. Beide hatten sie ihre Versuchstiere mit verschiedenen Reizen konfrontiert. Mit Nahrung, Bedrohung, grellen Farben oder Gegenständen, die das Interesse des Kraken wecken könnten. Mit dem gleichen Reiz hatten sie nacheinander jeden der acht Arme konfrontiert und beobachtet, ob sich das Tier unterschiedlich verhielt.

      Sie saßen einander gegenüber, ihre Gesichter ins bläuliche Licht ihrer Displays getaucht, und diskutierten Ergebnisse und Formulierungen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach einem besonders langem Hin und Her einen Satz in ihre Computer getippt hatten, nickten sie einander mit einem schmalen Grinsen zu, schoben die Laptops zur Seite und liebten sich mitten auf den aufgeschlagenen Unterlagen. Viele ihrer Fachbücher konnten sie gar nicht mehr zur Hand nehmen, ohne an die eine und andere leidenschaftliche Vögelei zu denken, die Verquickung von Wissenschaft und Lust, von ihren Kraken und ihrer Leidenschaft, war so eng, dass sie sich schon lange nicht mehr das eine ohne das andere vorstellen konnten. Ihre Forschung auf andere Tierarten zu lenken, war für sie so undenkbar wie sich zu trennen.

      Zwiebelschneiden

      »Jens!«

      Jolanda starrt mich völlig entgeistert an, und ich bin auch erschrocken über das, was ich gerade zu Lara gesagt habe. Aber das kann ich natürlich nicht zugeben. Also fahre ich Jolanda auch noch an. Manchmal gibt es einfach kein Zurück mehr, da will man die Wörter, die einem hochkommen, eigentlich schlucken – und was tut man, man schreit sie noch umso lauter heraus.

      »Kleine Verräterin«, fahre ich sie an, dass sie heulend in ihr Zimmer abrauscht. Und jetzt stehe ich da, allein im leeren Flur und bin wie eingefroren von dem Schreck über mich selbst, und die eigene Stimme pocht mir wie ein Echo, das nicht leiser werden will, in den Ohren.

      »Komm!«

      Endlich ein Wort in meinem Kopf, das nicht von mir ist. Ich schaue mich um, wem das Komm gehört, und da steht die neue Putzfrau von Papa und Lara in der Küchentür.

      »Was ist?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme noch einmal aufflackert. Wie wenn der Wind in eine Flamme fährt. Obwohl sie mich gehört haben muss, sagt sie nichts, sondern schlurft zurück in die Küche in ihrem Kleid, das wie ein Vorhang aussieht, also nichts, was man von morgens bis abends an sich herunterhängen haben will.

      Mir einfach keine Antwort geben, geht eigentlich gar nicht, denke ich, und folge ihr nur deshalb, weil ich ihr das auch sagen will, doch da dreht sie sich um, und ich schwöre, dieser Blick von ihr, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Wie ein Alien im Kino, der einen einfriert mit seinem Starren. Als hätten ihre Augen Finger, die mich festhalten.

      »Du bist traurig«, sagt sie und schaut dabei direkt in meinen Kopf. So fühlt es sich zumindest an, und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.

      »Hilf mir, die Zwiebeln zu schneiden«, sagt sie, und für gewöhnlich setze ich keinen Fuß in die Küche, außer um etwas zu essen, aber die Zwiebeln sind einfach die einzige Ausrede, falls ich hier wirklich gleich losheule.

      Sie hat schon alles vorbereitet. Zwei Schneidbretter liegen auf dem Tisch mit zwei Messern und dahinter das Netz mit den Zwiebeln. Nur um etwas zu sagen, will ich sie fragen, was wir eigentlich kochen, bekomme aber kein Wort heraus. Die Kehle ist zu, ich greife schnell nach dem Messer und schneide einfach mitten hinein in die erstbeste Zwiebel. Als ich das Brennen in den Augen spüre, ist das wie die Erlösung, und es bricht aus mir heraus. Wasserfälle aus Rotz und Tränen, und diese Martha, die mir mit einem riesengroßen