Kugelwechsel. Rudolf Trink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Trink
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Rumpler Rosamunde-Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741725
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hängen. Nach Beendigung der Trauerfeier löste sich die Versammlung erstaunlich schnell auf, bis auf die Teilnehmer am Leichenschmaus, die abwartend beisammenstanden. Rumpler wunderte sich über dieses eigentümliche Wort Leichenschmaus, das ihm bisher in all den Jahren völlig normal vorgekommen war, obwohl unter Schmaus doch wohl so etwas wie eine vergnügte Völlerei zu verstehen war. Vielleicht war auch das, was Rumpler irritierte, genau so richtig, dass nämlich die Traurigkeit und das Schmausen aufeinandertrafen, damit sowohl Tod als auch Leben zu ihrem Recht kamen.

      In dem an der Simmeringer Hauptstraße gelegenen Wirtshaus angelangt, setzte sich Rumpler an einer der vorbereiteten langen Tafeln auf einen äußeren, wenn auch nicht den äußersten Platz, um sich nicht in der Mitte allzu lange einsperren zu lassen und dadurch seinen geplanten raschen Aufbruch zu gefährden.

      Neben ihm saß einer der Waldviertler, ein junger Bursche von vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahren, der Rumpler mit Begeisterung von seiner Tätigkeit bei der freiwilligen Feuerwehr berichtete. Auf die an Rumpler gerichtete Frage, was er denn beruflich so mache oder gemacht habe, antwortete dieser ziemlich vage, er sei Beamter gewesen und seit zwei Jahren in Pension, um nicht etwa durch eine unbedachte Bemerkung bei seinem Gegenüber ein von Fernsehen und Kino ohnedies schon angeheiztes, durchaus verständliches Interesse an Rumplers beruflichen Erfahrungen zu wecken.

      An Rumplers anderer Seite saß eine ältere ihm unbekannte Frau, die auf seine höflichen Versuche, sie ins Gespräch zu ziehen, überhaupt nicht reagierte und ihre Suppe, den Kopf dicht über dem Teller, mit erstaunlicher Geschwindigkeit in sich hineinschaufelte.

      Nach der geradezu klassischen Hauptspeise, Wiener Schnitzel vom Schwein, auf Wunsch auch vom Kalb, mit gemischtem Salat verabschiedete sich Rumpler von seinen Sitznachbarn, legte Sabine mit den Worten „Ich ruf dich an“ kurz die Hand auf die Schulter, holte mit beträchtlicher Mühe seinen Mantel von einem der übervollen, einen feucht-muffigen Geruch verströmenden Kleiderständer und verließ aufatmend das Lokal.

      Abgesehen von Begräbnissen war er kaum jemals in diese Gegend gekommen, mit Ausnahme eines Falles, jenes Falles, der im Moleskinebuch mit der Nummer siebzehn ruhte und jetzt wieder vor Rumplers innerem Auge aufgetaucht war. Spielende Kinder hatten damals in einer nahe dem Kaiserebersdorfer Friedhof liegenden Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg einen Toten gefunden, bei dem zunächst angenommen worden war, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Die wegen gewisser Zweifel angeordnete Obduktion hatte jedoch ergeben, dass der Tote eine beträchtliche Dosis eines schweren Giftes in seinem Körper gehabt hatte. Der Fall selbst hatte sich dann als sehr harte Nuss erwiesen, die schließlich aber doch geknackt worden war.

      Rumpler wollte durch Bewegung an der frischen Luft die Begräbnisatmosphäre hinter sich lassen und die Stelle, an der der Tote damals gefunden worden war, nochmals aufsuchen. Er musste jedoch feststellen, dass das gesamte Areal seither weiträumig umzäunt worden war. Zusätzlich wurden Eltern auf Tafeln darauf aufmerksam gemacht, dass sie für ihre Kinder hafteten. Das taten Eltern zwar immer, aber die Tafeln ließen sich interessanterweise trotzdem gut verkaufen. Rumpler brach seine kurze, missglückte Expedition ab und trat den langen Heimweg an. Jetzt wo das Begräbnis vorbei war, bedauerte er bereits, nicht doch mit dem Auto gekommen zu sein.

      o

      8.

      Am nächsten Morgen wachte Rumpler knapp vor sechs Uhr auf und sein erster Gedanke war, froh darüber zu sein, dass das Begräbnis vorbei war. Gleich nach dem Frühstück machte er sich daran, seine Moleskineeintragungen fortzusetzen. Die Goldunterschlagung durch Karl ergänzte er durch ein „Angeblich“ in dem etwas hilflosen Versuch, dem Toten ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Auflistung der vier Direktoriumsmitglieder und ihrer Meinungen ergänzte er um die Anmerkung: „Felsinger = Dissident. Hier ansetzen?“

      Noch während er schrieb, überlegte er bereits, ob er Moser über die neue Entwicklung informieren sollte, entschied sich aber vorläufig dagegen. Er wollte einfach noch klarer sehen und die angebliche Goldunterschlagung Karls hatte für ihn die Angelegenheit weiter verkompliziert, statt sie zu klären. Er beschloss, auch Sabine erst später zu informieren, wenn er mehr wusste.

      Ein großes Fragezeichen machte er beim IT-Chef Edwards. Falls die Goldunterschlagung Karl untergeschoben worden war, bedurfte es dafür eines unmittelbaren Zugangs zum Tresor selbst, sonst hätte kein Gold verschwinden können, und diesen unmittelbaren Zugang hatte Edwards – außer eventuell im Fall von Kontrollen der Bestände – nicht. Rumpler sah sich das Organigramm der Firma durch, das ihm Sonja gebracht hatte. Als sogenannter Sperrführer, also direkt im Tresor tätiger Mitarbeiter, war neben Karl noch ein Mann angeführt, jener Gregor Schnirch, den Rumpler bereits von den Telefonlisten her kannte. Rumpler breitete wie schon öfter die diversen eng beschriebenen Seiten der Liste mit den Telefonaten vor sich aus. Kaum hatte er mit einiger Mühe eine entsprechende Ordnung hergestellt, als Rosamunde auf den Tisch sprang und sich auf die Zettel fallen ließ.

      „Hexe“, sagte Rumpler.

      „Wenn du mich wegschubst, werde ich dich hauen müssen“, machte Rosamundes Blick klar.

      „Ein Zeichen“, murmelte Rumpler und rechtfertigte mit Rosamundes Intervention einen kleinen Espresso.

      Kaum stand er in der Küche bei der Kaffeemaschine, als sie das Interesse an ihrem Zettelbett verloren hatte und ihm in der Hoffnung auf eine kleine oder vielleicht auch größere Menge Futter folgte.

      „Na gut“, sagte Rumpler und holte ein Stück Schinken für sie aus dem Kühlschrank, legte es auf einen Teller und stülpte rasch eine Schale darüber, um Rosamundes sofortigen Zugriff auf den noch zu kalten Schinken zu verhindern.

      Rumpler liebte das Ritual der Kaffeezubereitung. Seine eher kompakte, chromglänzende Siebträgermaschine hatte er von seinen Kollegen zur Pensionierung geschenkt bekommen und sie funktionierte noch immer perfekt – aber nur, weil sich Rumpler sowohl in die technischen Details vertieft als auch die feinen Abstufungen des Mahlgrades und des Anpressdrucks, mit dem er im Siebträger den Kaffee zusammendrückte, zu eigen gemacht hatte. Auch die Auswahl der Kaffeeschale war für ihn von Bedeutung. Rumpler hatte eine ganze Reihe von dickwandigen italienischen Schalen in verschiedenen Größen. Es gab reinweiße Schalen, aber auch mehr oder weniger bunt bemalte. Wenn Rumpler befürchten musste, sich in Fantastereien zu verlieren, was gar nicht so selten vorkam, wählte er eine Schale mit Erdfarben in verschiedenen Braun- und Rotabstufungen, um sich, wie er meinte, wieder zu erden. Wollte er hingegen seinen Gedanken Auftrieb verleihen, griff er zu sehr hell gehaltenen Schalen, die Leichtigkeit und Inspiration versprachen. Am liebsten waren ihm die reinweißen Schalen, die alles offenließen, wie eine weiße, bilderlose Wand, und damit auch alles ermöglichten.

      Zu so einer weißen Espressoschale griff Rumpler, während er sich am Geräusch des Mahlwerks und am Geruch des frisch gemahlenen Kaffees freute. Als sein Espresso fertig war, gab er Rosamunde ihren Schinken und beeilte sich, vor ihr ins Wohnzimmer zu kommen, um so ihr gegenüber die älteren Rechte an dem mit Papieren belegten Tisch geltend machen zu können. Er nahm mit Genuss den ersten Schluck, besah sich die braunen Schlieren, die an der Innenwand der Schale eine kleine Dünenlandschaft bildeten, und vertiefte sich wieder in die Listen, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte.

      Dann war es für ihn plötzlich wie beim Augenarzt, wo in Testbildern, die aus unzähligen bunten Punkten bestehen, Buchstaben oder Zahlen verborgen sind, die man zunächst nicht sieht, kaum hat man sie aber wahrgenommen, springen sie einem regelrecht ins Auge. So und nicht anders erging es Rumpler mit den Telefonaten zwischen Edwards und Schnirch. Plötzlich erkannte er ein Muster. Edwards und Schnirch hatten immer wieder einmal telefoniert, aber zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Länge. An den drei Dienstagen vor Karls Tod hatten sie ebenfalls miteinander telefoniert, jedoch immer zur selben Zeit und fast bis auf die Sekunde gleich lang, nämlich beinahe exakt zehn Minuten.

      Die Präzision dieses Vorgangs faszinierte Rumpler. Es war wie bei Vogelschwärmen, die sich aus vermeintlichem oder tatsächlichem Chaos heraus plötzlich formierten und dann mit erstaunlicher Präzision ihre Manöver flogen. Die Regelmäßigkeit der Telefonate