Und jetzt hatte es also auch Hildegard Binsen erwischt, die zu den ältesten Gästen gehört hatte. So alt, dass sie bereits regelmäßig das Café Franz Joseph besucht hatte, wenn man ihren Erzählungen aus der Zeit nach der mit einer Namensänderung einhergegangenen Übernahme des Kaffeehauses durch das Ehepaar Sandor Glauben schenken wollte. Ja, es hatte sich einiges verändert in den letzten Jahren, wobei sich besonders die letzten Monate auf die Kundschaft des Café Sisi ausgewirkt hatten. Geblieben waren von den alten Stammgästen Alois Hirschhauser und drei Damen, Maria Calloni, Gertrude Haberhauer und Elisabeth Vrabec. Nicht zu vergessen der treue Inspektor Obermayer, Franz Obermayer, dessen Argusaugen sich in der Regel allein auf Petra Sandors Kuchen und Torten richteten.
Auf der noch jungen Stirn der Konditorin zeigte sich eine steile Falte. Wie idyllisch wäre es ohne die alten Geschichten doch gewesen.
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Kirschen, Kuchen und Kolleginnen
Das Gymnasium in Bad Au schien nicht zur Ruhe kommen zu wollen. Zu Beginn der großen Ferien, die jetzt freilich schon ein gutes oder eher schlechtes halbes Jahr zurücklagen, der von manchen lang ersehnte, wiewohl doch sehr unerwartete Weggang des seit Jahren pensionsreifen Direktor Dippelbauer. Dann der mindestens genauso unerwartete, hingegen von niemandem, nicht einmal dem unmusikalischsten Schüler ersehnte Unfalltod des Musiklehrers Eckart Glück, dicht gefolgt von den Aufregungen um die neue Direktorin Bettina Glaunigg-Althoff. Und, vorläufiger Schlusspunkt, deren nur scheinbar unmotiviertes spurloses Verschwinden kurz vor Ende des Wintersemesters. Das war ganz schön viel für den Lehrkörper, der doch irgendwie das Wesen einer Schule ausmachte, in der die Schüler wechselten, selbst wenn einzelne Exemplare sich alle Mühe gaben, bis zu zehn Jahre am selben Gymnasium zu verbringen. Ob das für die Atmosphäre einer Schule sprach, sei dahingestellt.
Nach all den Aufregungen hatte kurz vor den Semesterferien auf beinahe allgemeinen Wunsch der Kollegen Alfred Kuntz interimsmäßig die Leitung des Bad Auer Gymnasiums übernommen. Weil solch eine Schule auch oder gerade in Krisenzeiten einer starken Hand bedurfte, damit sich das Wissen nicht am Ende unkontrolliert unter den Schülern ver- beziehungsweise auf ihnen ausbreitete und sie unter sich begrub.
Alfred Kuntz also, Anglist und Geograf, der durch die Übertragung dieser ehrenvollen Aufgabe seine Power zurück und neuen Aufwind bekommen hatte. Das tat ihm sichtlich gut. Nach einem langen Wintersemester, während dessen seine Haare ihre karottenrote Farbe und der ganze Mann seine Kraft verloren zu haben schienen, strotzte Herr Kuntz jetzt wieder vor Energie. Herr Direktor Kuntz, wie seine zum Teil langjährigen Kollegen ihn scherzhaft anredeten, wenn sie sich nicht gar zu einem Herr Direktor Fred verstiegen. Der auf diese Weise Angesprochene wehrte sich ebenso scherzhaft gegen die übertriebene Ehre, was nichts daran änderte, dass die Schmeicheleien runtergingen wie Öl. Da lief das Werkchen, genannt Psyche, einfach besser als mit dem Sand, den die alte neue Direktorin so gern in sein Getriebe gestreut hatte.
„Fred“, sagte da ganz unverblümt Kuntz’ junge Kollegin beziehungsweise Untergebene Maria Liliencron und riss den interimsmäßigen Direktor damit aus seinen Gedanken. „Fred“, sagte sie noch einmal, da der Angesprochene nicht sofort reagierte, „hast du einen Moment für dich?“
Diese Frage war ein bisschen seltsam. Nicht in erster Linie deshalb, weil die Formulierung normalerweise eher eine Einleitung zu einer Bitte denn eine Frage darstellte, sondern seltsam vielmehr deswegen, weil Maria Liliencron sie tatsächlich so gestellt hatte – einen Moment für dich.
Diese Merkwürdigkeit schien Alfred Kuntz jedoch überhört zu haben. Als Direktor einer Mittel- und Oberschule hatte man so viel um die Ohren, dass man unmöglich allem und allen Gehör schenken konnte, zumal man mit Geschenken in dieser Position ohnehin sparsam umgehen sollte. Damit das Personal, also besonders der Lehrkörper, nicht unverschämt wurde.
Deshalb wunderte Alfred Kuntz sich nicht über die Worte der Kollegin, sondern beantwortete deren seiner Meinung nach rhetorische Frage mit einer Gegenfrage. „Was kann ich für dich tun, Maria?“
Das war nett gemeint vom interimsmäßigen Herrn Direktor, aber nett gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von nett und nett ist sowieso ... Aber lassen wir das, zumal sich das Sprichwort genau genommen ohnehin auf das Adjektiv gut bezieht. Das erste jedenfalls.
Maria Liliencron sah oder vielmehr hörte aus dieser Frage heraus, dass der liebe Herr Direktor ihr nur ungenügend zugehört hatte, weshalb es einer Korrektur und Konkretisierung bedurfte.
„Für dich, lieber Fred“, sagte sie darum, „nicht für mich.“
Da zogen sich nun doch ein paar Falten oder besser Runzeln durch das ansonsten verjüngte Gesicht unter der leuchtend roten Haarpracht. Obwohl Haarpracht vielleicht doch ein wenig übertrieben war, da der interimsmäßige Herr Direktor den Haarschnitt der Bedeutung seines Amtes angepasst hatte und die von Natur aus eher wirren Wirbel und Kringel akkurat gestutzt und streng frisiert trug. Was nichts an ihrer Farbe änderte. Und noch weniger an den Runzeln, in die Kuntz’ Stirn sich bei den Worten der Kollegin gelegt hatte.
„Warum für mich?“, wollte er wissen. „Ich bin nicht Direktor geworden, damit ich Zeit für mich habe. Dafür fehlt sie mir sowieso. Die Schule geht vor. Außerdem“, fügte er hinzu, „schaue ich eh auf mich.“
Auf ihn schaute auch Maria Liliencron, allerdings ein bisschen skeptisch. Was in gewisser Weise wieder einen Gleichstand herbeiführte, weil somit jeder der beiden Kollegen den anderen mit Skepsis beäugte. Quasi unentschieden.
Entscheidend war aber, dass Maria Liliencron sich nicht mit der Antwort des lieben Herrn Direktor Fred zufriedengab und sogar noch eine dritte Person ins Spiel brachte. „Bist du sicher, Fred, dass du genug auf dich schaust? Auf dich und vor allem auch auf die Claudia?“
Claudia war Alfred Kuntz’ Lebensgefährtin, die in den vergangenen Monaten allerdings kaum noch lebendig, weil schwer depressiv gewesen war. Alfred Kuntz hatte das, wahrscheinlich, zu ändern versucht und war gescheitert, hatte sogar gedroht, selbst aus einer depressiven Verstimmung heraus in eine Depression abzurutschen. Daraufhin hatte Maria Liliencron versucht, die Situation beider gefährdeter Lebenspartner zu ändern und war ... nun, genau das wollte sie wissen.
„Claudia geht es gut“, gab Alfred Kuntz sofort bereitwillig Auskunft. „Die war gleich nach Neujahr bei dieser ... dieser ... Psychotan...“
„Frieda Hirschhauser“, half Maria Liliencron ihm weiter.
„Richtig, danke. Also bei dieser Hirschhauser. Und die hat sie zu einem anderen Psych...“
„Zu einem Psychiater, meinst du?“, unterbrach ihn die Kollegin.
„Ja, richtig. Dort ist sie hingegangen und hat endlich Tabletten bekommen und jetzt läuft’s wieder“, sagte Alfred Kuntz hörbar erleichtert, wobei er offen ließ, ob das apostrophierte s als sie oder es zu denken war. Damit wollte er das Gespräch ... nun, vielleicht nicht abwürgen, aber doch in eine andere Richtung lenken, denn er sagte ein paar floskelhafte Worte zu Maria Liliencron, die ein näheres Interesse an ihrem Befinden vermitteln sollten.
Die junge Kollegin hatte jedoch noch nicht genug erfahren, nicht genug von dem, was sie tatsächlich und aufrichtig interessierte. Ihr lag noch eine Frage auf der Zunge, die allerdings dort liegen bleiben musste, weil in diesem Moment eine andere Kollegin das Büro betrat und darum bat, mit dem Herrn Direktor sprechen zu dürfen.
„Maria, sei so lieb ...“, wandte Alfred Kuntz sich an sie.
„Bin schon weg“, sagte Maria Liliencron und verließ den Raum, bevor sie bei ihrer Liebe noch zu etwas anderem aufgefordert wurde. „Manche