„Ist lieb von Ihnen“, antwortete der alte Herr ebenso leise. Seine Linke zuckte, als wollte sie der jungen Frau über den Arm streichen oder wenigstens die Hand drücken, berührte stattdessen aber nur zaghaft die Kuchengabel. So blieb Alois Hirschhauser sitzen, während Petra Sandor sich dezent zurückzog. Man kannte einander.
„Die dunkle Seite der Macht schlägt zurück“, kam es aus der hinteren Ecke des Gastraums.
„Mach ein bisserl leiser, Mann, sonst bekommt unser Universum unerwünschten Zuwachs“, tadelte eine andere Stimme.
„Das dehnt sich sowieso immer weiter aus“, verteidigte sich die erste Stimme.
„Vielleicht. Vielleicht zieht es sich danach aber auch wieder zusammen und die dunkle Macht fliegt raus, weil sie die Grenzen der Realität nicht anerkennt.“
„Der Fiktion, du Nuss“, gab die dunkle Macht zurück.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Petra Sandor, wie Herr Hirschhauser sich mit der Kuchengabel die von schütterem Haar nur notdürftig bedeckte Kopfhaut kratzte. „Er ist alt geworden“, dachte sie, „das wäre ihm früher nicht passiert, dafür hätte Frau Doktor Binsen schon gesorgt.“ Womit die von keinem Titel belastete Konditorin zweifellos recht hatte. Für Hildegard Binsen wäre es ein schwerer Fauxpas gewesen, in aller Öffentlichkeit – und sei es nur die eigentlich sehr private Öffentlichkeit im Café Sisi – mit einem Mann gesehen zu werden, der sich mit einer Kuchengabel am Kopf kratzte wie ein ordinärer Bauarbeiter. Dass Bauarbeiter selten Kuchengabeln zur Hand hatten, hätte Hildegard Binsen geflissentlich übersehen.
Petra Sandor lächelte. Doch es war kein glückliches Lächeln, das ihre schmalen Lippen umspielte, vielmehr ein trauriges, melancholisches. Ein Lächeln, das seinen Zwilling auf dem faltigen Gesicht des Herrn Hirschhauser fand. Ein Lächeln, das in einem Akt der resignativen Verzweiflung die entschwindende Vergangenheit festzuhalten versuchte, sich der Vergeblichkeit seines Bemühens aber schmerzlich bewusst war, weil die so belächelte Vergangenheit längst entschwunden war.
„Hildegard“, seufzte Herr Hirschhauser in seinen Gedanken, als hätte er die der Petra Sandor erraten. Er ließ die Kuchengabel sinken. Was hätte er nicht für diese Frau – also für Hildegard, Hildegard Binsen – gegeben? Alles. Alles, was er hatte. Aber dieser Kurt Binsen, dieser aufgeblasene Medizinstudent, hatte mehr zu geben gehabt. Zumindest theoretisch, denn was davon seine, Alois Hirschhausers Hildegard tatsächlich bekommen hatte und was ihr, wie dem Esel die Karotte, nur lockend vorgehalten, schlussendlich aber verweigert worden war, ließ sich nur erahnen. Hildegard selbst hatte darüber höchstens andeutungsweise gesprochen. Weil es unmöglich gewesen wäre zuzugeben, dass sie, Frau Doktor Binsen, in den Augen der Welt einen Fehler gemacht und den falschen Mann geheiratet hatte. Oder besser gesagt: einen falschen Mann, weil die Auswahl an falschen Männern in der Regel weit größer als die an richtigen zu sein schien. Weshalb man den Frauen auch keinen Vorwurf machen durfte, musste sich der von ihnen gewählte Mann doch beinahe zwangsläufig als ein falscher herausstellen.
Aber gerade zu jener Riege der mit einem falschen Mann gesehenen und verehelichten Frauen hatte Hildegard, geborene Bauernfeind, nicht gehören wollen, war also mit ihrer Wahl zufrieden gewesen oder hatte sich zumindest damit zufriedengegeben, indem sie sich selbst nahm, was sie bekommen konnte. Den Doktortitel ihres Gatten zum Beispiel.
Den brauchte er nach seinem Tod ohnehin nicht mehr. Wobei sie diesen Titel zugegebenermaßen bereits vor seinem Tode geführt hatte, wohingegen sie nach dem Tod des Göttergatten auch alle anderen seiner Besitztümer geerbt hatte, da gemeinsame Kinder nicht gegeben oder genommen, auf jeden Fall nicht geboren worden waren.
„Anakin Skywalker bekämpft die fremde dunkle Macht mit seinem Lichtschwert“, war vom Tischchen in der hinteren Ecke des Gastraums zu hören.
„Du bist schizophren“, unterbrach eine andere Stimme.
„Und bei dir piept’s wohl“, sagte die erste ärgerlich.
„Logisch, reden kann ich ja nicht.“
„Dafür faselst du aber eine ganze Menge“, mischte sich eine dritte Stimme ein.
Alois Hirschhauser fasste entschlossen seine Kuchengabel und stach die drei Zinken in das bis dahin noch jungfräuliche Stück Guglhupf. Petra Sandors Lächeln verlor für einen Moment seine Wehmut.
Hildegard Binsen war an einem nasskalten Tag Anfang März gestorben. Kälte und März beherrschten noch immer das Wetter beziehungsweise den Kalender, aber wie zum Hohn lachte nun die Sonne vom wolkenlos blauen Himmel und lockte die ersten Frühlingsblumen aus der zum Teil noch gefrorenen Erde. Hildegard Binsen konnte diese Blumen nicht mehr sehen. Schade, denn Blumen waren das Einzige gewesen, woran sich ihr mitunter hitziges Temperament nicht entzündet hatte. Mit Blumen hatte man sie immer besänftigen können, selbst wenn die Lage ganz und gar aussichtslos zu sein schien.
Im Unterschied zu Kurt Binsen, Pardon, Herrn Doktor Kurt Binsen hatte Alois Hirschhauser jedoch selten zu diesem letzten Mittel greifen beziehungsweise es Hildegard Binsen selten überreichen müssen. Ihm gegenüber war die liebe Hildegard nur in Ausnahmefällen wirklich aus der Haut gefahren. Oder lag das daran, dass die Blumen weniger das Temperament der hitzigen und jetzt toten Dame als vielmehr das Gewissen der jeweiligen anderen Partei besänftigen sollten? Diesen Schluss ließen zumindest die zu Kränzen gewundenen oder in gewundene Kränze gesteckten Blumen – vor allem Rosen und Gerbera – zu, die den Sarg der Verstorbenen geschmückt hatten und jetzt auf ihrem Grab vor sich hin welkten.
Das Temperament Hildegard Binsens war mit ihrem Tod erloschen, vielleicht sogar ein wenig früher, vielleicht schon mit dem Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr erholen sollte. Das Gewissen der Hinterbliebenen drückte diese jedoch über Hildegard Binsens Tod hinaus oder begann eigentlich erst da, so richtig zu drücken, bis es die Angst hervorgepresst hatte. Die Angst vor den Gerüchten, die klatschsüchtige Mäuler über mangelnde Pietät und so weiter verbreiteten. Oder verbreiten konnten, weshalb die Blumen auf dem Grab also vielleicht weder das hitzige Temperament der Frau Doktor Binsen noch das Gewissen der Hinterbliebenen beruhigen, sondern vielmehr die Mäuler der – weiblichen genauso wie männlichen – Klatschweiber stopfen sollten. Weil Schweigen doch Gold und so.
Wobei die Sache mit den Blumenkränzen auch nicht ganz risikofrei war. Weil so ein Kranz im Grunde die Liebe zum Verstorbenen ausdrücken sollte. Die Größe dieser Liebe richtete sich jedoch nicht selten nach der Größe der Erbschaft. Weil deren Größe und Wert zum Zeitpunkt eines Begräbnisses aber oftmals noch gar nicht feststanden, konnte so eine Grabwanderung schon mal zur Gratwanderung werden. Frei nach dem Motto: Werde ich mir Mutters Kranz noch geleistet haben können, nachdem ich die restlichen Begräbniskosten bezahlt und die Notarrechnung beglichen haben werde? Das Futur exakt ließ sich leider nur sehr ungenau vorhersagen.
Auf Hildegard Binsens Grab waren, zugegeben, nicht viele Kränze gelegen, dafür aber umso größere. „In Schmerz und Trauer. Heinrich und Luise“ war auf dem einen gestanden, dessen dunkelviolette Rosen alles andere als natürlich gewirkt hatten. „In Liebe. Deine Familie“ hatte Alois Hirschhauser auf einem anderen gelesen, auf dem sich rote mit hellrosafarbenen Gerbera duellierten. Und einen Kranz hatte sogar die Stadtgemeinde geschickt. Weil Kurarztgattin und so. Wer sich von den jetzigen Gemeindebonzen noch an den lange verstorbenen Doktor Kurt Binsen erinnern konnte, hatte Herr Hirschhauser sich gefragt.
Er selbst hatte keine Blumen auf den Friedhof mitgebracht, weder einen Kranz noch eine einzelne Rose, die er seiner Hildegard ins offene Grab hätte werfen können. Über die Köpfe der wenigen anderen Begräbnisteilnehmer hinweg, hinter denen er sich während der ganzen Zeremonie nicht hervorgewagt hatte. Wer war er schon? Ein Jugendfreund, mehr nicht. Doch die Jugend lag lange zurück, sehr lange.
Und wer hätte sich bei einem Begräbnis schon nach vorne gedrängt und gerufen: „Ich, bitte, ich hab sie all die Jahre geliebt, obwohl sie mich nicht hat