Es ist gut, daß ich auf meinem Weg in die Vergangenheit zufällig auf diese Zeichnung gestoßen bin, auch wenn ich nun zwischen dem Fürsten und Tuzzi, zwischen dem Silbernen und mir vielleicht auf einen Umweg geraten bin. Aber vielleicht ist es gar keiner. In unserem sonderbaren Lande Österreich sieht ja vieles wie Zufall aus, was sich bei genauerer Erwägung doch nur als Folge einer großen Dichtigkeit auf verhältnismäßig kleinem Raum erweist, einer eminenten Dichte von Zusammenhängen personaler und historischer, administrativer und pur menschlicher Natur, in der alles von allem durchdrungen ist oder jedes mit jedem zeitlich wie räumlich derart verbunden ist, daß weitere Konnexe und Konjunktionen unaufhörlich von selbst sich herstellen. Was immer man hierzulande angreift, es kann zum Schlüssel werden für alles andere. Und so mag es sein, daß diese Zeichnung – nur Geduld! es muß da noch einiges entwirrt werden! – über Zwickledt und Mauthausen doch auch zu ihr führt. Nur darum geht es mir: nur um sie.
Es muß im Frühling des Jahres 1955 gewesen sein, als der Medizinalrat, damals gerade Primarius geworden und somit als der einzige von uns halbwegs gut verdienend, sich sein erstes Auto leistete und uns, mich und Kurt Moldovan, zur Jungfernfahrt einlud.
Obgleich wir ohne bestimmes Ziel losgefahren waren, ergab sich’s bald von selbst, auf magische Weise geradezu, daß wir schließlich hinauf in den Dreiländerwinkel gerieten, in dem seit Jahrzehnten Alfred Kubin lebte; es wird wohl Moldovan gewesen sein, der als erster vorschlug, dieser schon zu Lebzeiten mythisch gewordenen Gestalt der österreichischen Kunst einen Besuch abzustatten.
Wir waren jung – auch der Medizinalrat war’s damals noch – und genossen die Fahrt durch das blühende Land sehr; ein Auto zu haben, mit dem man sich so frei bewegen konnte wie man wollte, und abschweifen, wohin man wollte (die Russen hatten die Kontrollen an der Demarkationslinie schon aufgehoben), das war in jenen Tagen noch etwas Besonderes, etwas, das Freiheit zu gewähren schien; die Welt kam uns nicht nur schön, sondern auch angenehm komfortabel vor, und die Überschwemmung mit solchen und ähnlichen Empfindungen versetzte uns in den Zustand einer leichten Berauschtheit, in der sich die Eindrücke vervielfachten und jeden von ihnen zur Quelle neuer Heiterkeiten werden ließ.
Das hinderte uns nicht, mit geradezu ehrfürchtigem Respekt vor den großen Alten hinzutreten.
Kubin war damals im sechsundsiebzigsten Jahr; kurz zuvor war sein Roman »Die Andere Seite« neu aufgelegt worden und erwies nun, ein halbes Jahrhundert, nachdem er geschrieben worden war, seine nostradamischen Dimensionen.
Kubin empfing uns freundlich, mit der gleichmütigen Entrücktheit eines alten Mannes, an dem schon zu viele Besucher vorübergegangen waren, als daß er zwischen ihnen noch unterschieden hätte. Moldovan hatte einige seiner Zeichnungen mitgebracht, um sie von dem großen Alten absegnen zu lassen, aber der Meister prüfte nicht die Zeichnungen, sondern nur das Papier, fand es schlecht und schenkte seinem Nachfolger im Geiste aus dem eigenen Vorrat etliche leere Blätter besonders schönen Papiers (wenige Tage vor seinem Tod hat mir Moldovan noch erzählt, daß er eben das letzte verwendet habe; er ist sparsam damit umgegangen; schade, daß ich nicht mehr erfuhr, was er darauf gezeichnet hat).
Wir saßen in Kubins Arbeitszimmer, das nicht einem Atelier, sondern eher der Studierstube eines Wissenschaftlers glich (auf dem Bücherbord sah ich ein violettes Glasglöcklein, dessen Klöppelknauf aus einem winzigen elfenbeinernen Totenschädelchen bestand), versuchten schüchtern – auch der Medizinalrat war es damals – unserer Verehrung Ausdruck zu geben und verabschiedeten uns bald, weil wir die anständige Meinung hegten, daß man einen so alten Mann nicht daran hindern sollte, den Rest seines Lebens mit wichtigeren Dingen hinzubringen. Aber das war überraschenderweise dem Hausherrn nicht recht, ihm schien’s vermutlich nicht gastfreundlich genug, Fremde – mochten sie auch immerhin nur die Vertreter einer bestimmten Gattung und nicht eigentlich Individuen sein – so bald gehen zu lassen; er bestand darauf, uns wenigstens noch die nähere Umgebung seines Sitzes zu zeigen.
In dieser Dreiviertelstunde mit Kubin, der, haarlos und mit gelblicher Haut, in kaftanähnlichem Hausrock, wie einer der mysteriösen Lamas wirkte, die auf der Anderen Seite des Flusses unbewegt dem Vermodern der Stadt Perle zusehen, machten wir einen Ausflug in eine Parallel-Welt, die weit realer war als alles, was über derlei Möglichkeiten in der gesamten Science-Fiction-Literatur steht. Kubin zeigte uns einen kleinen Froschtümpel hinter dem Haus und murmelte, daß er niemals begriffen habe, wie da die Krokodile und Schlangen hineingeraten seien, die er hier »nur abgezeichnet« habe; dann erzählte er uns von seiner längst verstorbenen Frau so, als ob sie noch lebte, sprach er von den Ereignissen der letzten Kriegstage, verwechselte aber Szenen von 1945 mit anderen von 1918, wies er hinüber ins Tschechische und sagte, daß er noch einmal dorthin wolle und deshalb an den Präsidenten Masaryk schreiben werde, seinen alten Freund (aber Masaryk war der Präsident der ersten tschechischen Republik gewesen und damals schon längst tot).
Jedoch hatte dieses Durcheinanderbringen von Zeiten und Orten, hatte dieser Austausch von Wirklichkeit und Phantasie durchaus nichts Greisenhaftes oder Seniles an sich, wirkte auf uns auch keineswegs beklemmend und besorgniserregend, denn es hörte sich freundlich an und war geradezu unglaublich weit von jeder Boshaftigkeit entfernt; ich glaube, daß ich niemals mehr in meinem Leben einen so kindlichen Mann getroffen habe (und doch war dies der Enzyklopädist des Dämonischen, Prophet der Verwesung und Seher der Vermoderungen) – und schließlich begriffen wir’s: dieser Mann war jenseits seines Alters so alterslos und so sehr alt schon immer gewesen, daß die Geschiche an ihm nicht als eine Aneinanderreihung willkürlicher Ereignisse vorbeigegangen war, sondern sich ihm als eine Kollektion von Mustern darbot: sie zeigte ihm ihre Strukturen. Eine davon war der Krieg, nicht der vergangene und vorvergangene, sondern der Krieg an sich; andere Muster waren das Krokodil oder die Schlange, die aus jedem beliebigen Wasserloch gekrochen kamen, um sich von ihm abzeichnen zu lassen, und ein Drittes war die ununterbrochene Abnützung des Seienden an sich.
So gerieten wir unter dem sanften Zauber dieses Mannes sehr schnell in die Welt der Staubdämonen und Verwesungsgeister, doch empfanden wir auf dieser Anderen Seite nicht Schrekken oder Angst – die kamen erst später, sondern im Gegenteil ein sonderbares Wohlbehagen, dem Gefühl der Befriedigung ähnlich, das man hat, wenn man als Schwimmer oder Flieger in ein anderes Element eintaucht und spürt, daß man von ihm nicht versehrt, sondern friedlich mitgenommen wird.
Als wir dann die Straße von Zwickledt nach Schärding hinabfuhren, kam uns ein kleiner altmodisch-bäuerlicher Leichenwagen entgegen. »Den hätte Kubin zeichnen können«, sagte Moldovan.
Doch Kubin hatte ihn bereits gezeichnet, viele Jahre zuvor schon. Später kaufte der Medizinalrat das Blatt und hängte es in seinem Dienstzimmer auf, zur Erinnerung an unsere gemeinsame Fahrt.
Und dann kam wieder ein Montag, und wieder saß ich im tiefen Lederfauteuil, sah über dem Kopf des Medizinalrats die Zeichnung mit dem Leichenwagen und grübelte über allerlei von mir vermutete Zusammenhänge zwischen Zwickledt und der gegenwärtigen Situation, fühlte mich dabei, denn dieser Montag war glimpflich verlaufen, halbwegs im Einklang mit dem Weltganzen – und da fing der Medizinalrat doch wieder mit dem Thema an, dem gewissen und gefürchteten, während er die ominöse Glasdose vors Auge hielt und die Kügelchen darin hinund herrollen ließ.
»Ich betrachte«, sagte er, leiser als sonst, »diese Küglein da in letzter Zeit immer nachdenklicher, im selben Maß nachdenklicher, in dem ich finde, daß unsere Existenz zunehmend unlustiger wird. Falls du dich fragen solltest, ob das ein Symptom des Alterns ist, werde ich diese Frage mit einem Ja beantworten, aber hinzufügen, daß ich und du zwar gewiß auch nicht jünger werden, die Welt um uns aber derzeit sehr viel rascher altert als wir. Sie kühlt aus, sie stockt auf der Stelle, sie hat sich ihrer Willensfreiheit begeben: in ihr wird morgen passieren, was gestern schon festgelegt wurde. Und darauf bin ich nicht neugierig, ja, ich fange an – das eben ist es, meine Neugier auf diese schon erstarrte Zukunft zu verlieren, und das ist schlimm, denn ich vermute, daß lediglich die Neugier, wie es weitergehen und wo das alles enden wird, uns über die Zeiten hinwegzuhelfen vermöchte, die einem so ins Haus stehen – jedenfalls wüßte ich nicht, was sonst unsereinen dazu bewegen könnte, sie erleben zu wollen. Mein alter Verdacht, daß man nur solange lebt, als man Neugier aufbringt, verstärkt sich: ohne Neugier ist nicht nur das Leben, sondern folglich