Warum hat die Entzündung ihn erwischt? Ist sie die Strafe für seine Gedanken? Für die Hand unter der Decke?
Wann hat es sich entzündet? Ins Helle zu schauen, das tat ihm weh, damit fing es an. Dann Doppelbilder. Rasende Kopfschmerzen. Am schlimmsten im Krankenwagen. Er glaubte, nie mehr anzukommen im Spital. Mitten auf der Strecke ging es nicht weiter. Draußen Hupen, Rufe, Grölen, Gelächter, Heimatlieder. Kein Durchkommen. Warten. Eine Ewigkeit. Unter seiner Schädeldecke, laut widerhallend, Heimatlieder, Gelächter, Grölen, Rufe, Hupen. Dann Scheppern, etwas Blechernes schlägt auf den Asphalt, gefolgt von aufbrausendem Gejohle. Endlich weiter.
Er kann nicht schlafen. Später werden sie ihn holen. Wie jeden Tag. Er wird ihnen nicht in die Augen schauen. Auf einen Tisch werden sie ihn setzen. Herren in weißen, dünnen Mäntelchen. Er wird dasitzen mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Die Unterschenkel werden über die Tischkante hängen, ohne hin und her zu baumeln. Das Hemd wird hinten hochgehoben werden. Sein Körper wird starr werden. Sie werden sprechen hinter seinem Rücken. Er wird ihn ganz versteifen. Und warten auf den Einstich von hinten. Die Weißkittel werden reden, wie wenn er nicht vorhanden wäre. Einmal nannten sie Namen von Nachbardörfern seines Städtchens. Sie redeten von niedergerissenen Ortstafeln und Schmierereien. Er rührte sich nicht. Genauso, wie er sich nicht rühren wird, wenn er wieder dort sitzt. Jetzt im Bett erstarrt er, wenn er daran denkt. Sie nennen es: punktieren. Das Wort sticht ihn. Er darf sich nicht rühren. Er wird dennoch zusammenzucken. Jetzt unter der Decke durchschauert es ihn. Ein elektrischer Schlag wie an dieser Stelle am Ellbogen. Zu Hause nennen sie es das tamische Aderle. Zu Hause.
Nicht daran denken. An anderes denken. Dieses andere Wort für seine Krankheit: Meningitis. Silben, die, sich langsam von seiner Schädeldecke lösend, ins Hirn tropfen, wieder und wieder: Mee-niin-gii-tiis.
Er wühlt sich in die Erde. Er sieht die nackten Leiber vor sich. Seine Hand gleitet unter die Hose. Er darf sich nicht rühren. Er legt seine Hand auf den Schwanz. Reibt ihn an seinem Oberschenkel. Er soll ihn nicht berühren. Die anderen dürfen ihn nicht hören. Er soll still liegen. Seine Hand wetzt seinen Schwanz am Oberschenkel. Er darf nicht so laut atmen. Die Decke darf nicht rascheln. Die anderen. Es darf sich nichts rühren.
Ihm ist langweilig. Er kann nicht schlafen. Der Vorhang ist weiß und hell. Die Sonne kann nicht herein. Sie hat sich verfangen im Vorhang. Er reibt seinen Schwanz am Oberschenkel. Die Decke darf sich nicht bewegen. Seine Hand darf sich nicht. Er darf sich nicht …
Vormittags sind sie gekommen. Er musste sich umdrehen im Bett. Das Spitalhemd hochziehen. Sie sprachen zu ihm von oben herab. Er hatte den Kopf am Polster weggedreht, weg von ihnen. Rührte sich nicht. Er hatte die Spritze bei ihrem Hereinkommen gesehen. Er kannte das schon: Po und Oberschenkel weich machen. Er machte sie hart. Er wartete auf den Einstich. Presste den Kopf in den Polster. Das Hereindrücken der Flüssigkeit dauerte. Es war nicht jedes Mal gleich schmerzhaft, der Stich kam immer überraschend. Tränen schossen ihm in die Augen. Er drückte den Kopf noch fester in den Polster. Der Oberschenkel schien aufzuquellen. Er regte sich nicht mehr, bis sie aus dem Zimmer waren.
Er liegt im Bett. Und kann nicht schlafen. Penicillinspritze. Um dieses eine Wort kreisen seine Gedanken. Unter der Hirnhaut, tonlos, kreischen sie: Pe-nii-cii-llinsprii-tze. Seine Hand wandert unter die Hose. Er darf sich nicht rühren. Seine Gedanken gehen unter die Erde. Zu den nackten Männern. Er wetzt unter der Decke. Die Federn dürfen nicht quietschen. Pe-nii-cii-llii-n. Peitschen ringeln sich durch die Luft. Er darf nicht atmen.
Er kann nicht schlafen. In der Wand ist eine große Glasscheibe. Die Türe daneben ist abgesperrt. Alle hier drinnen sind ansteckend. Ist die Hirnhaut durchsichtig wie das Trennglas? Ein Wort nistet sich in seinem Kopf ein: Karantäne. Das klingt ein bisschen wie Kärnten. Später hat er eine Krankenschwester gefragt. Nein, hatte die gelacht, das kommt nicht von Karantanien, das schreibt man mit Q. Eine fette Kröte von einem Wort, denkt er, nein, eine Qualle. Ist das Hirn im Kopf in Quaa-raan-tää-ne? Kann man Gedanken durch die Hirnhaut sehen wie Fische durch die Glaswand eines Aquariums?
Er liegt im Bett. Er darf sich nicht rühren. Niemand schaut jetzt durch das Glas ins Zimmer herein. Unter der Decke bewegt sich seine Hand. Die anderen im Zimmer schlafen. Unter der Hirnhaut verknäueln sich seine Gedanken. Käme jemand zur Scheibe und schaute herein, würde sein Körper im Bett augenblicklich erstarren. Unter der Hirnhaut seine Gedanken aber, die flackerten weiter.
Vater und Mutter kommen ihn besuchen. Sie dürfen nicht ins Zimmer. Nur hereinschauen dürfen sie. Durch das Glas. Wenn sie kommen, dreht er sich im Bett um, auf die andere Seite. Seine Tränen sollen sie nicht sehen. Wenn sie gegangen sind, steckt er seinen Kopf unter den Polster. Keiner darf ihn hören. Die Decke darf nicht zittern. Die Matratze darf nicht beben. Die Unterseite des Polsters ist nass.
Sie haben ihm die Schneekugel von zuhause mitgebracht. Die Krankenschwester hat sie ihm gegeben. Sein Heimatort unter einer Schneedecke auf dem weißen Nachtkästchen mit den Rollen. Wie bei seinem Bett.
Er soll sich nicht rühren. Er soll ruhen. Die Bettdecke ist schwer. Schlafen soll er, viel schlafen. Es ist warm. Die Gedanken geben keine Ruhe. Ist seine Hirnhaut deshalb entzündet? Seine Hand ist unter der Hose. Seine Gedanken sind unter der Glasdecke. Sein Körper liegt unter der Bettdecke. Am Nachtkästchen steht die Schneekugel.
Er kann und kann nicht schlafen.
Er schüttelt die Schneekugel.
IM SEITENSCHIFF
Er ist zu spät. Er hat wieder einmal getrödelt. Er drückt die schwere Klinke nieder und tritt ein ins Seitenschiff, in eine Luft, die stickig und frostig zugleich ist. Hier ist der Winter eingefroren. Das ganze Jahr über. Das Weihwasser ist eisig kalt. Er spürt die Frische auf der Stirn beim Bekreuzigen. Bis in den Frühling hinein schwimmt im Weihwasserbecken ein Eisblock mit einer dünnen Wasserschicht darüber.
Jeden Sonntag spürt er Beklemmung beim Eintreten. Er fühlt sie schon früher, bereits zu Hause beim Aufwachen, Waschen, Anziehen. Er hat nichts gegessen. Der Leib Christi darf nur auf nüchternem Magen empfangen werden. Da ist eine Unruhe in ihm, die er zu vertrödeln sucht. Vergebens. Es ist jedes Mal das Gleiche. Er zögert den Kirchbesuch hinaus. Die Glocken haben schon die Messe eingeläutet. Die Eltern waren auch knapp dran.
Es ist neun Uhr vorbei. Er ist da. Er wirft einen kurzen Blick auf das Kreuzigungsbild auf der Seitenwand. Jesus trägt die Dornenkrone und Blut fließt die Schläfen herunter und Blut sprießt aus den angenagelten Handtellern, aus der rechten Schulter, unter dem langen Haar hervor, aus den zusammengenagelten Füßen; selbst in der Wange klafft eine Wunde. Zu den Füßen des Gekreuzigten stehen Maria und Maria Magdalena. Sie bluten heimlich, wie er weiß, seit die Großmutter einmal in hellster Aufregung in die Küche gekommen war und mit der Mutter getuschelt hatte. Er hörte nicht genau, was sie sprachen, aber er verstand das Wort Blut. Es klang sehr bedrohlich aus dem Munde seiner Großmutter, und als gleich darauf die Mutter ins Zimmer der Schwester ging, bekam er es mit der Angst zu tun. Er fragte die Großmutter, was mit seiner Schwester los sei. Sie gab ihm keine Antwort. Er fragte, sie sagte: Nichts. Er fragte noch einmal. Sie sagte, er solle nicht so blöd fragen, und machte dabei ein so alarmiertes Gesicht, dass seine Angst noch wuchs: Blutet sie? Da herrschte sie ihn an: Frage nicht! Um Gottes Willen, frage nicht! Er rannte zum Zimmer seiner Schwester, die Großmutter ihm nach, so gut sie konnte in ihrem Alter, im Zimmer war sie nicht, er hörte Stimmen aus dem Badezimmer, auch die seiner Schwester, Gott sei Dank, und die seiner Großmutter hinter ihm: Nicht hineingehen! Er blieb vor der Tür stehen und rief: Was ist los? Seine Mutter öffnete. Er sah seine Schwester blass beim Spiegelkasten stehen, als sie aufblickte, schaute er weg, sie kam ihm so anders vor als sonst, aber er hätte nicht sagen können, wie. Wenigstens lag sie nicht in ihrem Blute oder war mit Wundmalen übersät wie Jesus Christus. Seine Mutter schob ihn in sein Zimmer, vorbei an der Großmutter, die misstrauisch dreinschaute, und erklärte ihm alles. Trotzdem war ihm seine Schwester von da an unheimlich.