Paula blieb ihrem verstorbenen Mann mehr als sechzig Jahre lang treu, sie trug nur noch schwarze und graue Kleider, dazu um den Hals ein schwarzes Samtbändchen, erzog ihre Kinder zu Anstand und folgte der Tochter nach deren Hochzeit erst nach Aarau, dann nach Zürich, wo ich geboren wurde. Sie besuchte jeden Sonntag die Kirche, hatte keine Freunde, keinen Hund und keinen Vogel, las keine Bücher, interessierte sich weder für Mode noch für Blumen, noch für Sport, noch für Musik, strickte pro Jahr zwei Pullover, einen für mich und einen für meine Schwester Ruth, sie tat vierzig Jahre lang fast nichts als aus dem Fenster schauen, war freundlich und still, sie atmete, doch sie lebte nicht. Die Schönheit hatte einst ihr Schicksal bestimmt, nun welkte sie dahin wie eine müde Rose.
Stuttgart aber wurde zum gelobten Land, die Stuttgarter zur wahren Familie. Meine Mutter Amalie verbrachte acht Jahre jenseits der Grenze bei ihrem Grossvater. Er war blind, wurde von einer Haushälterin, gerufen Marie, und einer Putzfrau betreut. Amalie musste ihm den Handelsteil in der Zeitung vorlesen, am Bobserbrunnen Wasser holen, zum Mittagsschlaf eine Decke über seinen Knien ausbreiten und Ähnliches. Daneben blieb Zeit für Groschenromane, Bummeln in der Stadt und Kontakt mit Tante Helene, Onkel Ferdinand, Cousine Anneliese und Vetter Walter. Von ihnen lernte das Bauernmädchen (unsere Heidi) die feinere Lebensart, Kenntnisse, die sie wie Honig aufschlürfte. Sie faltete bald Servietten zu Fächern, erfuhr, was in der Oper geschieht, welche Gläser sich für Rotwein eignen und welche Zigarren für einen gediegenen Herrn angemessen sind. Praktischer war da noch die Erklärung der Tante, wie sich eine Frau während ihrer Tage bequem und hygienisch schützen kann.
Zu leben wie vor dem Ersten Weltkrieg in Stuttgart wurde für meine Mutter zum Lebensziel. Mit den Stuttgartern hatten wir stets guten Kontakt, dies besonders mit Anneliese, der Cousine meiner Mutter, die einst erklärte: «In Stuttgart war das gar nicht so nobel, wir lebten ganz gewöhnlich, kaum anders als ihr in Zürich.» Wir haben uns umarmt und gelacht; Stuttgart oder Zürich ist wie Spätzle oder Spätzli – gar kein so grosser Unterschied.
Dass das Glück meiner Grossmutter allein ihrer Schönheit zu verdanken war, habe ich erst viel später erfahren. Ausser ihr gab es in der Familie Woertz noch eine zweite unpassende Schwiegertochter. Sie hiess Luise, arbeitete als Kellnerin in einem Stuttgarter Bierlokal und sollte auf Wunsch des Grossvaters von einem seiner studierenden Söhne beurteilt werden. Dummerweise irrte sich dieser, testete mit einem Annäherungsversuch die falsche Luise, wurde geküsst und erstattete einen höchst negativen Bericht. Die Bier-Mamsell wurde nie in den Clan ihres Mannes aufgenommen und bekam als früh Verwitwete auch keine Unterstützung. Ihre Tochter Maria erinnerte sich: «Einmal wurde ich hübsch gekleidet und mit einer rosaroten Masche im Haar zum Grossvater gebracht, der mir zum Abschied fünf Reichsmark schenkte.» Mehr war für die unerwünschte Enkelin nicht drin. (Ich habe versucht abzuschätzen, wie viel Geld meiner Grossmutter ihre Schönheit eingebracht hat – nach heutigem Wert müssten es inklusive Erbschaft über zwei Millionen Franken gewesen sein, von denen nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder und Enkel profitierten). Maria hätte allen Grund gehabt, wütend zu sein, doch sie akzeptierte die Ungerechtigkeit der alten Welt, war sehr fromm, pilgerte einige Male nach Rom, dies mit jeweiligem Unterbruch der Reise in Zürich, brachte uns einst gar einen päpstlichen Ablassbrief mit. Wir fanden das komisch.
Doch zurück zu Heidi. Bei Johanna Spyri wird das bodenständige Leben in den Alpen verklärt, die gute Geissenmilch, der frische Käse, das Schlafen auf duftendem Heu, die reine Bergluft, die wunderbarer Weise mithilft, dass das behinderte Stadtmädchen Klara gesund wird. Bei unserem Familien-Heidi lief es ganz anders, für Amalie lag die bessere Welt in den Luxusgeschäften an der Königsstrasse, beim Konzertflügel der Cousine Anneliese, bei der gelöcherten Spätzlepresse der Haushälterin Marie (meine Mutter hat die Presse geerbt und in ihr zürcherische Spätzli gekocht).
Spätzle waren mit der geerbten Presse leicht zu machen, doch meine Mutter wollte auch den Chic der Königsstrasse haben, zum Beispiel ein Skunk-Cape mit senkrecht verlaufenden Fellen, wie es Tante Helene vor dem Ersten Weltkrieg gekauft hatte. Das gab es an der Zürcher Bahnhofstrasse (ein Ersatz für die Königsstrasse) nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Immerhin hatten auch wir feine Pelzgeschäfte und so setzte es meine Mutter durch, mit fast fünfzig Jahren Verspätung doch noch zu einem Skunk-Cape mit Königsstrassen-Senkrecht-Verarbeitung zu kommen.
Noch bedeutender als das Pelzchen waren für uns Kinder einige praktische Dinge, die Amalie aus Stuttgart übernahm. Meine Schwester und ich bekamen Klavierunterricht (wie Anneliese), meinem Vater schenkte sie Havanna-Zigarren (die gleichen, die der Onkel in Stuttgart rauchte), sie kümmerte sich nie um die armen kleinbäuerlichen Verwandten (nach dem Vorbild des Grossvaters, dem eine Kellnerin zu wenig war), sie ging nie ohne Hut und Handschuhe ausser Haus, sie wollte stets das Bessere und das Noblere haben: Kleider von der Bahnhofstrasse, Schwimmen im Bad des Grand Hotel Dolder, teure Schützenwürste statt billigere Cervelats, Rosen als allein passende Blumengabe und vieles mehr.
Stuttgart erlebte meine Mutter als staunende Heidi, Stuttgart wurde für sie das Mass aller Dinge. Für mich ein Grund zu prüfen, wie das heute ist. Ein Katzensprung. Ich stieg am Zürcher Hauptbahnhof in den Zug und stand bereits drei Stunden später an der hundertfach gelobten Königsstrasse, die gleich gegenüber dem Bahnhof beginnt. Nein, als armes, von königlicher Noblesse verwirrtes Alpenkind habe ich mich nicht gefühlt, mir erschien die autofreie Shopping-Passage eher als mitteleuropäischer Durchschnitt. Vorbei der aristokratische Glanz, im alten Schloss ist nun ein sehenswertes und sehr publikumsfreundliches Landesmuseum eingerichtet, wo ich im letzten Saal den vier württembergischen Königen begegnete. Da stehen sie in voller Pracht, eingehüllt in rotem Samt und Hermelin, gepanzert mit Orden, geschmückt mit Krone und Zepter. Meine Mutter fand solches Gepränge wunderbar, lobte aber auch die Schlichtheit, mit der der König seine Hunde im Schlossgarten spazieren führte. Der Glaswürfel, der nahe vom Schloss moderne Kunst zelebriert, hätte ihr wohl weniger gefallen, ebenso wenig das lockere Angebot von sportlicher Mode, soliden Schuhen, mässig teurer Haushaltsware, zahlbarem Goldschmuck, Würsten und Bratkartoffeln. Berühmte Labels, Pariser Haute Couture, Nerzmäntel, Luxusuhren und Sterneköche konnte ich nicht entdecken, doch auch bescheidene Spätzle waren zu meinem Leidwesen nicht zu finden. Stattdessen offerierten die Restaurants meines Fünfsternhotels Steigenberger Pommes Frites. Eine Württembergerin, die seit mehr als dreissig Jahren in Zürich lebt, hat es mit erklärt: «Stuttgart ist modern geworden, Spätzle sind nur noch Hausmannskost, zu haben in den Kneipen beim Markt und in Supermärkten, übrigens auch in Zürcher Supermärkten wie Migros, Coop, Aldi, Lidl etc.» Wir lachten und ich dachte an Anneliese und ihren lockeren Städtevergleich: Zürich oder Stuttgart ist wie Spätzle oder Spätzli.
Anders als für meine Mutter wurde Stuttgart für mich nie zur besseren Welt, doch ich mag die Stadt meines Grossvaters gern, die Liebenswürdigkeit, mit der im Lindenmuseum die Kulturen Asiens gezeigt werden, die bestens gepflegten Häuser und Kulturdenkmäler, die Freundlichkeit der Menschen – der Kellner im Steigenberger-Hotel nannte mir sogar den Namen einer Kneipe, die Spätzle serviert. Nach Stuttgart komme ich immer wieder gerne.
Vom Grossvater erzählte die Mutter sehr oft, doch es waren immer wieder die gleichen Geschichte: Familie durch Pelzhandel in Russland vermögend geworden, Söhne zum Studium an der Universität Heidelberg, wo sich der Grossvater als bester Lateiner profilierte, Abbruch des Studiums und Abenteuerreise mit Segelschiff ums Kap Horn. (Die immer wieder hochgejubelte Fahrt ums Kap habe ich nachgemacht, allerdings nicht mit Segeln, sondern mit Motoren.) In Chile ging es flott weiter: Bekanntschaft mit einem nur mässig frommen Missionar, mit dem er wilde Pferde einfing und zuritt, zudem pflegte der Grossvater gute Beziehungen zur Kolonie der deutschen Auswanderer, war oft zu üppigen Dinners eingeladen, wurde dem Präsidenten vorgestellt und schliesslich dessen Sekretär. Viel über das Leben im Santiago des 19. Jahrhunderts hat meine Mutter nicht erfahren oder sie hat die Erzählungen des Grossvaters vergessen. In Erinnerung blieben allein Banalitäten: die Knoblauchknollen, die stets neben jedem Gedeck lagen und vor Krankheiten schützen sollten, die zwei Dutzend weisser Hemden, die handbemalten Fächer der Damen und vor allem die goldenen Knöpfe an den Westen, die bei den feinen Herren Mode waren. Die beiden akzeptierten Enkelinnen Amalia und Anneliese erbten die Knöpfe und liessen daraus Ohrringe machen, Maria ging einmal mehr leer aus. Das war zwar ungerecht,