Das Asam Vermächtnis. Rüdiger Woog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rüdiger Woog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969177112
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aussprechen konnte, und plötzlich bekam er, wie aus heiterem Himmel, Angst – nein, es war mehr als Angst, er hatte eine regelrechte Panikattacke. Erst fühlte er einen kleinen Schauer im Nacken, dann spürte er, wie sein Atem schneller und schneller ging und sein Herz zu rasen anfing. Anna sah ihn erschrocken an und flüsterte ihm zu »Geht es dir nicht gut, Leo? Du bist kreidebleich.«

      Leo spürte den kalten Schweiß auf der Stirn und fühlte sich elendig.

      »Alles gut, Schatz«, flüsterte er zurück, »hier ist es nur ein bisschen stickig und ich habe außer literweise Kaffee seit dem Frühstück noch nichts im Bauch.«

      Er machte den obersten Hemdknopf auf und lockerte seine Krawatte.

      Es war Anna deutlich anzusehen, dass sie sich mit dem leeren Bauch nicht zufrieden gab, aber sie drückte Leos Hand ein wenig fester, schob ihr Bein etwas enger an seines und versuchte, sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren.

      Nach endlosen Augenblicken der Hilfslosigkeit und einem kalten Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins beruhigte sich Leo langsam wieder und versuchte, sich alles mit dem Stress der letzten Tage und seinem übertriebenen Kaffeekonsum zurechtzulegen.

      Als die kleine Familie schließlich zu Hause war, drehte sich natürlich alles um die kleine Schauspielerin, die sich nach ihrem großen Erfolg zu Mama und Papa ins Bett kuscheln durfte; und auch in den darauffolgenden Tagen gab es keine Gelegenheit, den kleinen Vorfall zu besprechen. Also schlich sich wieder der gewohnte Alltag ein. Eine Zeitlang nahm alles seinen gewohnten Gang wie eh und je – eine Zeitlang.

      6

      Der Cubus aus Glas, Stahl und verwittertem Lärchenholz in der Regensburger Galgenbergstraße war schnell gefunden. Auch das Plexiglasschild mit der dunkelroten Aufschrift archotec war nicht zu übersehen. Leo erkannte durch die knauflose Glastür in der schlanken blonden Frau, die ihm in engem, schwarzem Rollkragenpullover und weiter, schwarzer Marlene Dietrich-Hose die Tür öffnete, sogleich Katja Gräber. Sie war immer noch außergewöhnlich attraktiv. Vielleicht hatte inzwischen ihre Haut einen reiferen Teint bekommen und auch das blonde, lockige Haar musste mittlerweile wohl nachgefärbt sein, aber abgesehen davon hatte es die Zeit mehr als gut mit ihr gemeint und Leo glaubte fast, die siebzehnjährige Weißbierkönigin von einst vor sich stehen zu sehen. Ihre blauen Augen wirkten wie damals irgendwie feucht, als hätte sie gerade eben erst geweint. Sie waren nicht gerötet, aber eben wässrig, wie von Tränen gefüllt, die aus irgendeinem Grund nicht fließen konnten oder durften.

      »Leo, grüß dich, komm doch rein«, empfing die alterslose Frau den Kommissar mit derselben samtigen Stimme wie vor dreißig Jahren.

      Katja Gräber ging zielstrebig auf ein kleines Büro mit futuristischen Möbeln aus schwarzem Stahl und schwerem Eichenholz zu. Aber Leo blieb noch im Gang stehen.

      »Katja, lass mich dir mein Beileid aussprechen. Es tut mir schrecklich leid, was mit Tim passiert ist.«

      Die Witwe hielt ganz kurz inne, presste die Lippen zusammen und nickte.

      »Danke, Leo. Nimm doch bitte Platz. Möchtest du einen Cappuccino?«

      Leo brach sein sich selbst gegebenes Versprechen, mehr auf Koffein zu verzichten, und nahm dankend an. Katja tippte auf dem Weg in die Küche etwas in ihr Smartphone, woraufhin das Licht im Besprechungsraum gedämpft wurde; kaum zwei Minuten später stand ein gläsernes Tablett mit kleinen, weinroten Designertassen vor ihm auf dem schweren Eichentisch.

      »Smarthome?«, fragte Leo beeindruckt.

      »Mmh«, antwortete Katja. »Ich brauche keine Schlüssel mehr, der Kühlschrank bestellt automatisch online und die Heizung kann ich von überall auf der Welt regeln. Hübsche Spielereien. Tim liebte das. Für mich ist es so überflüssig wie ein Kropf.«

      Leo blieb trotzdem beeindruckt.

      »Hör mal«, begann Katja Gräber, »ich wollte dich fragen, warum du an dem Tag, als … es passiert ist …, warum bist ausgerechnet du da in Weltenburg aufgetaucht?«

      Leo griff nach einer der Tassen und kostete den Kaffee, der ausgezeichnet schmeckte und vermutlich aus einer dieser stylischen George Clooney-Maschinen kam, die den Wert eines Kleinwagens hatten.

      »Hat dir das Frau Hoffmann-Bühl denn nicht gesagt?«, fragte Leo.

      »Wer?«

      »Die Landshuter Kommissarin.«

      »Ach so, die. Nein, hat sie nicht.«

      »Wir waren verabredet, Tim und ich.«

      »Ihr beide verabredet? Aber wieso denn? Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr jemals Kontakt hattet, zumindest in den letzten Jahren nicht. Worum ging es denn?«

      Leo wischte mit der Handfläche über den Eichentisch. Das Holz roch nach Öl und fühlte sich ungemein glatt und warm an, fast wie die Haut eines Menschen.

      »Tim hatte Angst, hat er mir am Telefon gesagt.«

      »Angst? Aber wovor denn?«

      »Das hat er mir nicht mitgeteilt. Kannst du dir vielleicht vorstellen, wer oder was ihm diese Angst gemacht haben könnte?«

      Die blonde Frau aus Leos Vergangenheit strich die Ärmel ihres Pullovers glatt und schüttelte den Kopf.

      »Nein, da war nichts und niemand. Ich weiß nicht, wie gut du dich an Tim erinnerst, aber er war ein äußerst friedlicher Mensch und hatte mit Sicherheit keine Feinde oder so.«

      Leo überlegte kurz, ob er Katja sagen sollte, dass er sich nur an einen völlig anderen Menschen, nämlich den Professor, erinnerte und ihm der neue Tim Gräber absolut fremd war, aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Katjas Smartphone vibrierte und Geräusche im Eingangsbereich zu hören waren.

      »Oh, das ist Moritz«, sagte Katja mit einem Blick auf ihr Handy.

      »Er ist … er war Tims Partner. Sie haben vor drei Jahren zusammen die Firma gegründet. Ich dachte, es wäre gut, wenn ihr auch miteinander sprechen könntet.«

      »Du weißt aber schon, dass Frau Hoffmann-Bühl die Ermittlungen leitet. Ich bin als Privatperson hier.«

      »Ach, die«, wiederholte sich Katja Gräber nur kurz und trocken.

      Einen Augenblick später stand ein großer, dreißigbis fünfunddreißigjähriger Mann mit dunklen Augen, kerzengeradem Seitenscheitel und ebenso dunklem Vollbart in der Bürotür. Er trug blaue Chinos, abgewetzte Boots und ein ziemlich enges Businesshemd, das nicht verhehlen sollte, dass er offensichtlich regelmäßig seine Muskeln trainierte. Der junge Mann küsste Katja auf beide Wangen und reichte Dietz eine außergewöhnlich große Hand, an deren Gelenk ausgewaschene Freundschaftsbänder hingen.

      »Hallo Moritz, darf ich dir Hauptkommissar Leo Dietz vorstellen? Er ist ein alter Freund von Tim. Sie waren zusammen in der Schule.«

      Schon wieder wurde Leo als Tims Freund bezeichnet. Aber er sagte nichts dazu.

      »Freut mich, Herr Dietz«, sein Händedruck war wie ein Schraubstock, »Falk, Moritz Falk.«

      Nachdem auch Moritz Falk mit Cappuccino aus Designergeschirr versorgt war, nahm er neben Katja auf der anderen Seite des Tisches Platz und schlug lässig die Beine übereinander.

      »Herr Dietz, wir, also Katja und ich, haben uns gefragt, was das für ein Zufall sein kann, dass Sie …«

      Katja Gräber unterbrach ihn »Lass gut sein. Das habe ich Herrn Dietz schon gefragt, Moritz. Die beiden hatten eine Verabredung, weil sich Tim angeblich irgendwie bedroht fühlte.«

      »Bedroht? Aber von wem denn? Tim hatte doch mit niemandem irgendwelche Probleme.«

      Leo schaltete sich ein »Auch das haben wir schon durch, leider ohne Ergebnis. Herr Falk, ich bin zwar nicht als Ermittler hier – Sie wissen vielleicht auch, dass die Kripo Landshut für den Fall zuständig ist –, aber vielleicht können Sie mir doch etwas über Ihre gemeinsame Firma erzählen. Das würde mich sehr interessieren.«