Das Asam Vermächtnis. Rüdiger Woog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rüdiger Woog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969177112
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Paar mit vor Entsetzen und Lichtschock geweiteten Augen, dass es sich um einen schlaksigen Mann mit Glatze um die Fünfzig handelte. Er hatte, wie der gekreuzigte Heiland, beide Arme von sich gestreckt und seine graublauen Augen waren weit aufgerissen. Der Tote war ganz in Schwarz gekleidet und in seiner Brust stak eine etwa einen Meter fünfzig bis sechzig lange, schwarze Lanze.

      Sören und Inge stürzten hinaus in den Klosterhof. Während Inge panisch an alle Türen der Gaststätte, der Brauerei und des Konvents hämmerte und Sören mit noch stärkerem Trema als gewöhnlich zweimal den falschen Entsperrungscode in das gemeinsame Smartphone tippte, um einen Notruf abzusetzen, ging hinter dem Hochalter die Sonne auf und tauchte die Apsis in rotgoldenes Licht, das sich über den goldenen Helm des heiligen Georgs, seinen Harnisch und die Lanze ergoss, um letztendlich von dem dunklen Rachen des Lindwurms verschluckt zu werden. Das rote Licht war berauschend schön und wäre wohl das spektakulärste Fotomotiv in Sörens Asam-Album geworden.

      4

      Leo war sehr früh aufgestanden und hatte schon um sieben am Schreibtisch gesessen. Er hatte die Idee, nach dem Treffen mit Tim Anna und Michaela mit warmem Leberkäse und frischen Semmeln daheim zum Mittagessen zu überraschen und erst dann wieder ins Büro nach Regensburg zurückzufahren.

      Natürlich war er wie immer spät dran und kam erst um zehn nach neun auf dem Busund Touristenparkplatz in Weltenburg an. Deshalb zog er die Polizeikarte aus dem Handschuhfach, warf sie vor sich auf das Armaturenbrett und steuerte auf das Kloster zu. Dann hielt er noch einmal kurz an und rief von der erhöhten Straße aus dem Parkwart auf seinem Campingstuhl hinunter »Polizei Regensburg. Tut mir leid. Ich bin ein bisschen spät dran …«

      Der Parkwart machte eine lässige Handbewegung.

      »Is‘ schon gut. Fahren’s nur zu. Ihre Kollegen sind eh schon da.«

      Kollegen? Wie war das denn gemeint? Zielte der Mann womöglich auf irgendwelche Touristen ab, die sich mit allerlei Ausreden die drei Euro Parkgebühr sparen wollten, und steckte ihn jetzt mit denen unter einen Hut?

      Als Leo vor dem Torbogen des Klosters ankam, den Defender links davon auf dem ausladenden Kiesbett des Donauufers abstellte und durch die hintere Pforte den Klosterhof betrat, sah er, was oder wen der Parkwart gemeint hatte.

      Im Hof standen ein Rettungswagen, ein Streifenwagen und zwei dunkle BMW mit Blaulicht und Landshuter Kennzeichen. Zwei Polizeibeamte in Uniform waren dabei, ein Absperrband um den Kircheneingang zu ziehen, und zwei weitere Leute, ein Mann in Leos Alter und ein etwas jüngerer, trugen Westen mit der Aufschrift KIT Landshut.

      Einer der Polizisten bezeigte Dietz von weitem mit einer abwehrenden Handbewegung, dass er sich fernhalten sollte. Als er das aber nicht beachtete, kam der Beamte auf ihn zu.

      »Bleiben Sie bitte zurück. Hier ist vorläufig alles gesperrt.«

      Leo zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn dem Polizisten hin.

      »Hauptkommissar Leo Dietz, Kripo Regensburg. Was ist hier passiert?«

      Der Polizist besah sich den Ausweis genau, etwas zu genau, fand Leo, bevor er antwortete »Eine Person wurde offensichtlich getötet – in der Kirche.«

      »Was für eine Person? Und wie?«

      »Ein Mann. Er wurde vermutlich mit einem Speer… aufgespießt.«

      »Was? Mit einem Speer?«, entfuhr es dem Kommissar.

      »Mit einer Lanze, nicht mit einem Speer«, hörte Dietz dicht hinter sich eine Frauenstimme und drehte sich ruckartig um. Er hatte nicht bemerkt, wie lange die Mittdreißigerin mit den brünetten, schulterlangen Haaren und der roten Softshellkapuzenjacke schon neben ihm stand. Obwohl die Frau perfektes Deutsch sprach, erkannte Leo an ihrer Art, wie sie jedes h im Wortanlaut zu ch machte, dass sie keine gebürtige Deutsche war. Sie war offensichtlich aus dem Konventeingang herausgekommen, wo ein hochgewachsener grauhaariger Benediktinermönch mit Brille und scharf geschnittenen Gesichtszügen unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt, verharrte und seinen Blick über den Hof schweifen ließ.

      »Eine Lanze ist länger als ein Speer. Sie wird nicht geworfen, sondern dient zum Stoßen«, ergänzte die Frau, wobei ihre blauen Augen den Blick des Kommissars fixierten.

      »Elena Choffmann-Bühl, Chauptkommissarin aus Landshut«, stellte sie sich vor und reichte Leo eine kleine Hand mit kalten Fingern.

      »Wie kommt es, dass Sie chier sind, Cherr Kollege?«, fragte sie. »Wir chaben gar keine Chilfe aus Regensburg angefordert.«

      Leo stellte sich noch einmal vor.

      »Ich bin eigentlich privat hier, oder halbprivat, wenn man so will.«

      Elena Hoffmann-Bühl hob fragend die Augenbrauen.

      »Ich wollte mich vor zwanzig Minuten mit jemandem treffen, der mich um Hilfe gebeten hat, um Hilfe als Polizist, nehme ich an. Aber wahrscheinlich wurde er von Ihren Kollegen schon mit den anderen Touris fortgeschickt, nehme ich an.«

      Die Kommissarin und der Polizeibeamte wechselten einen kurzen Blick.

      »Wie cheißt dieser Jemand, Cherr Dietz?«

      Leo fühlte plötzlich ein äußerst unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

      »Gräber, Tim Gräber, vielleicht ist er auch noch gar nicht gekommen. Warum möchten Sie das wissen?«

      Wieder ein Blickwechsel.

      Dietz sah unwillkürlich zu dem geschlossenen Rettungswagen hinüber.

      »Moment mal! Sagen Sie jetzt nicht, dass …«

      »Kommen Sie!«, erwiderte die Landshuter Kommissarin anstatt einer direkten Antwort und ging mit Dietz hinüber zum RTW. Sie gab dem jungen Mann vom Kriseninterventionsteam, der sich gerade eine Zigarette anstecken wollte, ein Zeichen, der daraufhin wiederum eine Sanitäterin mit ungewöhnlich langem Pferdeschwanz anstupste, die schließlich die Heckklappen des Fahrzeugs öffnete. Leo stieg nach ihr ein und sah ihr zu, wie sie den Leichensack auf der Bahre öffnete, wobei ihr langer Pferdeschwanz beinahe das Gesicht der Leiche berührte.

      Der Tote war nicht Gräber. Der Professor war immer sehr korpulent gewesen und hatte eine richtige Wolle an rotem, krausem Haar, das ihm meistens auf der verschwitzten Stirn klebte. Diese Leiche jedoch war hager und hatte weder Kopfhaar noch Augenbrauen.

      »Er ist es nicht«, sagte Leo erleichtert, »Tim Gräber sieht anders aus«.

      Die Kollegin aus Landshut sah ihn irritiert an.

      »Es tut mir leid, Cherr Dietz: Doch, das ist Tim Gräber. Chier ist sein Personalausweis. Sie chaben Ihren Freund wohl schon länger nicht mehr gesehen.«

      Elena Hoffmann-Bühl hielt Leo einen Plastikbeutel mit dem Ausweis, dem Führerschein, einer Geldbörse und einem Schlüsselbund hin.

      Leo besah sich den dünnen Mann mit den wachen, fast listigen Augen, die ihn durch die Plastikhülle aus einem regungslosen Gesicht, wie es bei biometrischen Passbildern erforderlich ist, anstarrten. Lag da so etwas wie eine stille Anklage in Gräbers Blick? Vor zwei Tagen hatte Leo einen Anruf aus der Vergangenheit erhalten. Einer der Uncoolen und Loser hatte seine Hilfe gebraucht und er war zu spät gekommen. Nun lag dort drüben im RTW ein Toter, der mit Leos Erinnerung bis auf den Namen nichts, absolut gar nichts zu tun hatte. Wer zum Teufel mochte dieser zweite Tim Gräber sein?

      Dietz wandte sich seiner Landshuter Kollegin zu.

      »Könnte ich bitte die Tatwaffe sehen?«

      Hoffmann-Bühl antwortete nicht sofort. Sie schien die möglichen Konsequenzen ihrer Antwort abzuwägen.

      »Also gut, Cherr Kollege. Ich zeige sie Ihnen. Aber lassen Sie mich bitte von vorncherein etwas klarstellen: Die Ermittlungen führen wir Landschuter. Das chier«, sie machte eine ausladenden Handbewegung, »ist unser Einzugsgebiet, wie Sie wissen.«

      Leo hatte mitnichten vor, sich einzumischen. Er nickte schulterzuckend und hob den linken Daumen hoch.

      Elena