Der Schock saß tief. Mit zittrigen Fingern begann Anna, die Schnürung ihres Kleids zu öffnen. Sie hatte keine Wahl.
Gerade hatte sie, mit geschlossenen Augen, das Kleid über ihre Schultern geschoben, als sie den Schrei hörte, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte.
»Hey, Jungs, es geht los!«
Es war nicht Martin gewesen, der gerufen hatte, sondern einer der wilderen Räuber. In Windeseile war der Käfig von schmutzigen Gestalten umstellt, und Kommentare und Anzüglichkeiten hagelten auf Anna herab.
»Na komm, die Titten haben wir doch schon gesehen, zeig uns mehr!«
»Komm doch ein bisschen näher, das wird dir gefallen, glaub mir!«
»Was glaubt ihr, wie lange, bis wir sie haben dürfen?«
Anna warf einen flehenden Blick zu Martin, der immer noch desinteressiert zusah.
»Na los, Mädchen«, sagte er, »bring es hinter dich, mach es gründlich, und die ganze Sache ist schneller vorbei, als du denkst.«
Anna hatte Schwierigkeiten, ihn über das Gegröle der Banditen überhaupt zu verstehen. Aber die Armbrust war noch immer auf sie gerichtet, und sie wollte gar nicht wissen, was mit ihr passieren würde, wenn sie sich widersetzen sollte. Immerhin war die Käfigtür verschlossen. Unter dem tiefsten Erröten, das sie jemals gespürt hatte, ließ Anna das Kleid zu Boden fallen und stand nun nackt vor den gierigen Männern. Ein Johlen erscholl zur Antwort. Sie schämte sich bis zu den Knochen, und tiefer. Anna wagte kaum, die Augen zu öffnen, musste aber, um den Eimer finden zu können. Sie sah ein Meer aus weit aufgerissenen Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten und auf ihren geheimsten Orten ruhten. Sie sah Hände, die sich ihr hungrig entgegenstreckten, oder um steife Penisse geschlungen waren. Ekel überkam sie. Sie griff schnell in den Eimer, fand einen Schwamm und begann, sich zu waschen. Es war sinnlos, zu versuchen, sich vor den widerlichen Männern verstecken zu wollen: Sie hatten den gesamten Käfig umstellt. Unter das Johlen und die bösartigen Kommentare mischte sich das Grunzen derjenigen, die ihren Höhepunkt fanden.
Als sie sich beugte, um ihr Kleid aufzuheben, hörte sie wieder Martins Stimme.
»Du sollst dich komplett waschen. Auch dort.«
Widerwillig ließ sie das Kleid wieder fallen.
»Bitte, Martin, bitte … alles, nur nicht das!«
Aber Martin ließ sich nicht erweichen. Er schüttelte nur den Kopf.
Sie hatte also keine Wahl. Sie griff sich den Schwamm, ging leicht in die Hocke, spreizte die Beine … und wusch sich auch zwischen den Beinen. Beinahe schrie sie auf. Unmöglich! Hatte die Situation sie etwa – sie war empfindlich, viel empfindlicher, als sie gedacht hätte, und die Berührung des Schwamms – nein, unmöglich, sie würde nicht einmal darüber nachdenken. Martin schien zufrieden zu sein, also presste sie den Schwamm ein letztes Mal aus und entfernte mit ihm die Reste des seifigen Wassers von ihrer Haut. Dann zog sie, endlich, ihr Kleid wieder über ihren Körper und rollte sich in der Mitte des Käfigs zusammen, reduziert zu einem Häuflein Elend. Langsam verschwand ihr Publikum, und während es verschwand, wurde ihr Weinen heftiger. Zuletzt war alles still, nur der Bach plätscherte und einige Vögel sangen, um die herabsinkende Sonne zu verabschieden. Martin öffnete die Käfigtür; die Armbrust hielt er noch immer in der Hand.
»Komm, Mädchen. Der Hauptmann will dich sehen.«
***
»Jetzt haben wir also endlich Zeit, uns eingehender miteinander zu beschäftigen«, sagte der Hauptmann zu Anna. Sie trug das einfache, blaue Hauskleid mit den roten Stickereien, das sie auch bei ihrer Entführung getragen hatte, aber unter dem Blick des Hauptmanns fühlte sie sich noch viel nackter, als sie es bei ihrer erzwungenen Waschung getan hatte. Sie konnte seinen Blick nicht erwidern und starrte zu Boden. Sie schämte sich so! Aber da war noch etwas anderes in ihr, ein wildes Feuer der Entrüstung, dass man so mit ihr umging. Aber sie fürchtete sich zu sehr, also hielt sie den Blick gesenkt.
»Ich sagte: Jetzt haben wir also endlich Zeit, uns miteinander zu beschäftigen. Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«
Mit einer Hand an ihrem Kinn zwang der Hauptmann Anna, ihn anzublicken. Er hatte sich verändert. Der ungewaschene, bärtige Hüne war jetzt glatt rasiert. Statt zerschlissener Felle trug er ein gut sitzendes Wollhemd. Seine schwarzen Haare fielen bis knapp auf die Schultern und seine Augen funkelten stahlblau. Anna stellte gegen ihren Willen fest, dass er ein attraktiver Mann war. Seine Brutalität ihrem Vater gegenüber hatte sie schockiert – doch festzustellen, dass er nicht das Monster war, für das sie ihn gehalten hatte, dass er die Brutalität bewusst eingesetzt hatte, schockierte sie noch viel mehr. Damals hatte sie ihn als ein wildes Tier gesehen – jetzt war er ein Mensch. Einem tollwütigen Fuchs konnte man sein Verhalten nicht vorhalten, er wusste nicht, was er tat. Der Hauptmann aber wusste es ganz genau.
Er nickte. Konnte er etwa Gedanken lesen?
»Du siehst, ganz so unzivilisiert wie ich mich vor einigen Tagen präsentiert habe, bin ich nicht. Und was meine Ankündigung angeht, dich meinen Männern zu überlassen: Dafür bist du viel zu schade.«
Anna schaute den Hauptmann verwirrt an. Was für ein Spiel spielte er? Er hatte doch seine Männer bereits … dann verstand sie.
»Was … was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr Lösegeld?«
Der Hauptmann lachte. Das Gelächter schüttelte seine massigen Schultern; er warf den Kopf in den Nacken und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch vor sich. Aber genau so plötzlich, wie sein Lachen gekommen war, verschwand es auch wieder. Er fokussierte Anna mit forderndem Blick.
»Wie heißt du, Mädchen?«
»Ich … ich heiße Anna.«
»Anna. Du bist einem Theaterstück auf den Leim gegangen. Einer Schmierenkomödie. Wir sind keine albernen Strauchdiebe, die es auf die zusammengerafften Groschen von reisenden Händlern abgesehen haben. Nun. Einige der Männer sind Strauchdiebe, aber der größte Teil diente schon in der Armee Mortekias unter mir.«
Anna erinnerte sich kaum an den Krieg, der in ihrer Kindheit ausgefochten worden war, hatte aber oft in der Schule von ihm gehört. Das Königreich Andobas hatte dem Fürstentum Mortekia aufgrund von Zolldisputen den Krieg erklärt; die Ritter Andobas’ hatten das unterlegene Militär Mortekias allerdings schnell überwunden und das Fürstentum zum Protektorat erklärt. Statthalter wurden eingesetzt, die Armee aufgelöst. Der mortekianische Widerstand, Reste der Armee, hatte geschworen, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen.
»Du kennst die Geschichte? Ja, du kennst sie. Ausgezeichnet. Willst du wissen, warum ich deinen Vater habe entkommen lassen?«
Anna nickte. Sie schien in einen verdeckten Krieg hineingeraten zu sein! In ihrem Kopf drehte sich alles.
»Ganz einfach. Er wird noch mehr Gerüchte über blutrünstige Banditen an der Westgrenze in Umlauf bringen. Das destabilisiert in erster Linie das Königshaus. Das nutzt nicht nur Mortekia, sondern auch einem Auftraggeber, der mich fürstlich für meine Rolle als Banditenhauptmann entlohnen wird. So gewinnen wir alle. Außer den machtgierigen Fürsten Andobas’ natürlich, die nichts können, als sich hinter Mauern zu verstecken.«
»Aber«, fragte Anna den Hauptmann, »wer ist ihr Auftraggeber? Wer außer Mortekia will Andobas schaden?«
Der Hauptmann lächelte. Es war ein gemeines, ein sadistisches Lächeln, das Anna einen Schauer über den Rücken jagte.
»Andobas hat mehr Feinde – und mächtigere Feinde –, als du ahnst, Mädchen. Aber du bist nicht hier, um mit mir die politische Lage zu diskutieren.«
Er stand auf, füllte einen Kelch mit Wein und reichte ihn Anna.
»Trink das. Ich habe dir von all dem erzählt, damit du verstehst, in welcher Lage du dich befindest.«
Der Wein war bitter, aber Anna wagte es nicht, sich dem Befehl des Hauptmanns zu widersetzen.
»Ich