Es herrschte rege Aktivität im Lager. Einige Männer holten Wasser, das zu einem allgemeinen Waschplatz bei den Zelten gebracht wurde, außerdem in Teilen zu dem großen Zelt, in dem sicher der Hauptmann Hof hielt. Es wurde Feuerholz aus dem Wald gebracht und in handliche Scheite gehackt, welche neben dem Küchenzelt gestapelt wurden. Außerdem wurde die Palisade ausgebessert, und unter Jubel trugen zwei Männer einen erlegten Hirsch durchs Tor. Einer der beiden hatte sie gestern aus dem Versteck gezerrt! Jetzt, wo ihm seine Kumpanen gratulierten, wirkte er, trotz der wilden Haare, viel weniger erschreckend.
Anna gewann, während sie den Männern bei der Arbeit zusah, mehr und mehr den Eindruck, dass zwei ganz unterschiedliche Gruppen im Lager lebten. Obwohl sie sich äußerlich ähnelten, aussahen wie verwahrloste Räuber, verhielten sich nur etwa ein Dutzend von ihnen auch wie solche. Die übrigen knappen zwei Dutzend erledigten ihre Aufgaben gemeinsam und schnell und scherzten dabei gut gelaunt miteinander. Sie alle hatten etwas Rohes, Gefährliches an sich, aber bei der größeren Gruppe hatte diese Rohheit Lenkung und Schliff erfahren. Anna musste, wieder, an das Militär und Soldaten denken. Was für eine merkwürdige Räuberbande, was für ein merkwürdiger Ort, an den sie hier gekommen war!
Die Mittagszeit kam und einer der zivilisierteren Räuber brachte Anna einen Teller mit Essen.
»Stell dich nach hinten, an die Zellenwand, greif durch die Gitterstäbe und verschränk deine Arme.« Der Mann wirkte nicht bösartig, sondern eher wie einer der Schreiber aus dem Rathaus, mit denen ihr Vater immer so viel zu tun gehabt hatte; er wirkte routiniert in dem, was er tat, und vielleicht ein klein wenig gelangweilt, aber vor allem desinteressiert. Anna tat, was er verlangte, er öffnete die Käfigtür, stellte einen Teller Eintopf und einen Kanten Brot ab, verließ den Käfig und verschloss ihn wieder. Er sagte nichts weiter zu Anna, also setzte sie sich zu ihrem Essen. Es war heiß und herzhaft. Sie war überrascht, zu merken, dass es ihr schmeckte, und sie aß mit Appetit.
***
Der Tag streckte sich mehr und mehr. Nachdem man ihr das Mittagessen gebracht hatte, tat sich nichts weiter. Sie beobachtete das geschäftige Lager, langweilte sich aber bald, da nichts Interessantes geschah. In der Dämmerung glaubte sie, ein Mädchen mit zu dicken Zöpfen geflochtenen, schwarzen Haaren zu sehen, das das Küchenzelt verließ und dann hinter ihm verschwand. Als auch diese kurzfristige Ablenkung verschwunden war, begann Annas Kopf erneut, drängende Fragen zu stellen, Fragen danach, was aus ihr werden sollte, jetzt, wo sie zu einer Gefangenen geworden war. Natürlich hatte sich alles als bedeutend weniger schlimm herausgestellt, als sie erwartet hatte – aber sie war auch noch kaum einen Tag hier. Niemand hatte bisher unaussprechliche Dinge von ihr verlangt, sie bedrängt oder auch nur herumkommandiert. Aber was wollten die Räuber von ihr? Vielleicht gegen Lösegeld eintauschen? Aber hatte der Hauptmann nicht gesagt, sie hätten etwas Besseres als das Gold ihres Vaters gefunden? Was konnte er nur mit ihr vorhaben?
Wie schon öfter an diesem Tag wanderte ihr Blick zum größten Zelt des Lagers. Nichts rührte sich, nur der Wind spielte mit den Bannern, die an der Zeltplane angebracht waren. Anna wusste nicht, ob sie den Hauptmann wirklich sehen wollte. Die Unsicherheit nagte an ihr, aber solange er nicht auftauchte, würde sie wohl weiter in Ruhe gelassen werden – aber erst wenn er sich zeigte, würde sie erfahren, was schlussendlich mit ihr passieren würde. Die heiße Verzweiflung der letzten Nacht hatte sich in kalte Ängstlichkeit verwandelt. In dieser Nacht schlief Anna ohne Tränen ein, aber lag noch lange wach.
Mitten in der Nacht schreckte sie hoch, jemand hatte nach ihrem Bein gegriffen. Sie schrie auf, zog ihr Bein zu sich und wich so weit zurück, wie ihr Käfig es zuließ.
»Nein, nein, Mädchen, komm doch her, ich habe hier etwas für dich …« die Stimme des Räubers war so ölig wie seine Augen gierig. Er trug eine Laterne bei sich, die aber kaum Licht gab. Anna war selbst überrascht von sich, aber sie verstand sofort, was zu tun war. Sie rief laut um Hilfe.
»Nein, nein, Mädchen, was tust du denn!«
Der Mann mit der Laterne versuchte, sich davonzumachen, schaffte aber kaum die Hälfte der Strecke zu den Zelten, als er von einem anderen Räuber abgefangen wurde. Es war derselbe, der Anna das Essen gebracht hatte. Er packte den mit der Laterne an der Kehle und riss ihn zu Boden. Er sagte irgendetwas zu ihm, das Anna nicht verstand, stand dann auf und lief, ohne sich umzublicken, zum Käfig zurück.
»Bitte entschuldige das, Mädchen, er ist alt, und es fehlt ihm an Disziplin. Ich bin Martin, wenn sich so etwas wiederholt, mach es genauso wie eben. Dann komme ich zurück.«
Sein Ton war freundlich, und sehr viel aufmerksamer als noch vor wenigen Stunden.
»D-, danke Martin«, hörte sich Anna sagen. Obwohl er ihr Zellenmeister war, hatte er sie gerettet – mehr oder weniger.
»Oh, da habe ich doch ganz vergessen, dass du auch eine Decke bekommen solltest. Warte kurz.«
Wenige Augenblicke später war Martin zurück und reichte Anna eine Wolldecke durch die Gitterstäbe. Sie war etwas rau, aber sie würde die Nacht sehr viel weniger unangenehm machen. Sie nickte Martin zu und lächelte etwas. Er lächelte zurück und verschwand nach einem Augenblick in Richtung seines eigenen Zelts.
Eingerollt in die Decke fühlte sich Anna schon viel wohler, wenn auch nicht weniger verwirrt. Der neue Tag würde ihr, vielleicht, Antworten bringen, vielleicht auch nicht. Aber wenigstens hatte sie es jetzt warm.
***
Der nächste Morgen kam so früh wie der letzte, auch mit der Decke konnte Anna nicht länger schlafen. Der Tag begann genau wie der letzte: Wasser wurde vom Fluss geholt, Banditen krochen aus ihren Zelten, Geschäftigkeit um das Küchenzelt, Frühstücksausgabe. Neu war, dass ihr Martin diesmal auch ein Frühstück brachte. Er folgte wieder dem Prozedere des gestrigen Tages. Dass er sich ihr in der letzten Nacht mit Namen vorgestellt hatte, schien er vergessen zu haben. Es gab Brei mit einer Scheibe Brot, Anna aß lustlos. Sie lauschte den groben Scherzen der Männer, die ihren jeweiligen Tätigkeiten nachgingen. Anna blieb ungestört in ihrer immer weiter anwachsenden Unruhe und Unsicherheit, bis ihr Martin das Mittagessen brachte. Er gebrauchte dieselben Worte, und als Anna versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, ignorierte er sie.
Den Rest des Tages verbrachte Anna mit ihren Augen auf das Küchenzelt gerichtet, aber das Mädchen, das sie glaubte, gesehen zu haben, zeigte sich nicht noch einmal. Als die Dämmerung hereinbrach, kehrte Martin zurück, aber Anna, die sich zuerst gefreut hatte, erstarrte: Denn diesmal trug Martin einen Eimer bei sich, in dem seifiges Wasser schwappte – und außerdem eine Armbrust. Er trug denselben neutralen bis gelangweilten Gesichtsausdruck wie zuvor, als er sagte:
»Du weißt ja, wie es funktioniert.«
Anna starrte ihn an.
Martin hob die Armbrust leicht und gestikulierte.
»Arme durch die Gitterstäbe und verschränk sie. Wir hatten das doch schon.«
Zögerlich gehorchte Anna. Die Zellentür wurde geöffnet und der Eimer abgestellt. Als die Tür wieder verschlossen war, sagte Martin:
»Du wirst dich ausziehen und dich waschen.«
»Gründlich«, fügte er hinzu, als er Annas geschockten Blick bemerkte.
»Aber … aber …«, stammelte Anna, aber Martin unterbrach