Ich verpasse ihn beinah.
Ab hier geht es zu Fuß weiter, nachdem ich den Wagen zwischen zwei Bäumen geparkt habe. Zum Glück ist der Boden trocken, bei Regen könnte ich Schwierigkeiten haben, wieder auf den befestigten Weg zu fahren.
Es sind einige hundert Meter bis zum Zaun um das Anwesen, denn von der Größe her ist es eins. Der Zaun ist dicht bewachsen und dadurch undurchsichtig, und auch hoch genug, dass nicht einmal Menschen, die größer sind als ich, darüber hinwegschauen können. Gerade darum nähere ich mich ihm so leise wie möglich und kampfbereit. Meine Intuition steht auf Alarm, ich spüre, dass die Villa nicht leer ist, wie sie eigentlich sein sollte. Zugleich spüre ich aber auch, dass es hier keine übernatürlichen Wesen gibt.
Da es von vornherein klar war, dass ich nicht immer die vorgegebenen Wege nutzen werde, trage ich nicht nur bequeme, sondern auch stabile Kleidung, in Tarnfarbe. Zumindest im Dunkeln. Ich klettere am Zaun hoch und betrachte die andere Seite. Nichts Aufregendes zu sehen, ein verwilderter, zugewucherter Garten. Ich schwinge mich rüber und lande im weichen Moos.
Irgendwo bellen Hunde.
Irgendwo bellen Hunde?
Ich atme tief durch. So was mag ich gar nicht. Ich will Hunden nicht wehtun, so wie ich eigentlich auch Menschen nicht wehtun will. Aber Letztere haben für gewöhnlich mehr Entscheidungsfreiheit und wenn sie mich angreifen, ist meine Hemmung, mich zu wehren, niedriger als bei Hunden. Irgendwie pervers.
Es bringt nichts, die Zeit mit Rumgrübeln zu verbringen. Aufmerksam marschiere ich Richtung Villa los. Das geht keineswegs in einer geraden Linie, derart zugewuchert ist der Garten. Und außerdem wird das Hundegebell immer lauter. Allerdings nähere ich mich den Hunden, nicht sie sich mir.
Und dann sehe ich sie. Etwa zwei Dutzend Hunde aller Größen und aller Rassen toben über den Rasen. Offenbar ist der Garten nur am Zaun entlang so verwildert, um den Eindruck zu erwecken, die Villa wäre unbewohnt. Um sie herum hingegen sieht alles gepflegt aus, wenngleich von einem Ziergarten keine Rede sein kann. Bei so vielen Hunden würde der auch nicht lange halten.
Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich hier Ben und irgendwelche Dämonen finden werde. Rückzug könnte eine sinnvolle Alternative sein.
Leises Knurren.
Mist.
Ich drehe mich langsam um und starre den Rottweiler an, der zähnefletschend vor mir steht. Das Gebell verstummt, und ich brauche mich gar nicht erst umzuschauen, um zu wissen, dass die anderen Hunde auch näher kommen. Beeindruckend, wie sie zusammenarbeiten. Das muss ihnen jemand beigebracht haben.
Ich blicke mich suchend um. Selbst wenn ich bereit wäre, die Hunde zu töten, es sind zu viele und am Ende würden sie mich zerfetzen. Ausnahmsweise könnte Flucht die bessere Alternative sein. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass ich es bis zum nächsten Baum schaffe und hochspringen kann, bevor sich die Zähne eines Hundes irgendwo in meinen Körper bohren.
„Sie sollten sich nicht bewegen.“
Ich wende den Kopf langsam dem Sprecher zu. Er steht schräg hinter mir, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Augen mustern mich durchdringend.
„Ich will hier nicht übernachten.“
„Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie hier eingebrochen sind. Das hier ist Privatbesitz.“
„Aber nicht Ihrer!“
„Wer sagt das?“
„Mein Mann ist Immobilienmakler. In der Datenbank ist dieses Grundstück als unbewohnt hinterlegt.“
Er lacht kurz, bitter. „Ach ja, diese schlauen Datenbanken. Ich habe das Grundstück gekauft, aber es nirgendwo eintragen lassen. Es war völlig verwahrlost.“
„Und Sie haben sich Mühe gegeben, dass es von außen immer noch so wirkt.“
„Ja, das hält Neugierige ab. Meistens. Was wollen Sie überhaupt hier?“
„Ich suche jemanden.“
„Auf einem vermeintlich leeren Grundstück?“
„Genau. – Hören Sie, ich habe weder die Zeit noch Lust zu diesem Spielchen. Ich konnte nicht wissen, dass hier jemand wohnt. Und ich will weder Ihnen noch den Hunden was antun, aber ich werde nicht länger hier rumstehen.“
„Ohne meine Erlaubnis sollten Sie sich aber nicht bewegen. Es sind viele Hunde und alle haben noch ihre Zähne.“
Ich betrachte die Hunde. Einige unter ihnen wirken selbst mit Zähnen nicht besonders furchterregend, aber andere haben ein ähnliches Kaliber wie der unablässig leise knurrende Rottweiler.
„Sehe ich so gefährlich aus?“
„Eigentlich nicht. Aber Sie sind bis hierher unbemerkt vorgedrungen, und das macht Sie durchaus gefährlich.“ Ja, eine voll logische Antwort.
„Prima. Und was haben Sie genau vor? Die Polizei rufen? Oder mich hier stehen lassen, bis ich vor Schwäche umfalle?“
„Hm. Interessante Ideen. Kann es sein, dass Sie einen leichten Hang zum Sadismus haben?“
Ich sehe ihn an. Er ist Ende Vierzig oder knapp über Fünfzig. Also wie James. Graue Haare, grauer, gepflegter und gestutzter Bart. Legere, bequeme Kleidung: Pullover, abgewetzte Jeans, Wanderschuhe. Wache Augen. Tief eingebrannte Furchen im Gesicht. Eigentlich ganz sympathisch.
„Na schön, ich habe keine Zeit für Spielchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich entweder über die Bäume wegkomme oder mit den Hunden fertig werde. Es wäre aber für alle besser, Sie riefen die Hunde einfach zurück.“
„Meinen Sie, die hören auf mich?“, fragt er amüsiert. Der Mistkerl scheint mich einfach nur für mein Eindringen bestrafen zu wollen. Ich schließe kurz die Augen, um nicht auf böse Gedanken zu kommen. Obwohl, es geht eher darum, sie wieder zu verscheuchen.
„Da bin ich mir sogar sehr sicher. Ich habe auch einen Hund und erkenne es, wenn Hunde auf jede Mimik reagieren. Außerdem hat jemand diesen Hunden beigebracht, als ein Team zu agieren. Sie sind der Boss.“
„Vielleicht stimmt das sogar.“ Er mustert mich jetzt genauer. „Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.“
„Sie pfeifen die Hunde zurück, und ich stelle mich vor.“
Er denkt darüber nach. Dann seufzt er und dreht sich um. Sofort wenden sich die Hunde von mir ab und setzen ihr ausgelassenes Spiel fort. Bis auf den Rottweiler. Er knurrt zwar nicht mehr, aber er bleibt mir auf den Fersen. Ich bleibe testweise stehen, er stoppt sofort auch.
„Er wird Sie nicht aus den Augen lassen, solange Sie auf dem Grundstück sind“, erklärt der Mann, ohne sich umzudrehen.
„Ein guter Gastgeber.“
Er lacht wieder kurz. „Ihr Humor ist bewundernswert. Die meisten Menschen, und insbesondere Frauen, so ungern ich das sage, in einer vergleichbaren Situation verlieren den Humor oder werden sogar panisch.“ Während er spricht, biegen wir um die Ecke und gelangen auf eine geflieste Terrasse mit einem Tisch und einem Stuhl. Aber der Geheimnisvolle ist auf Besuch eingerichtet, denn aus einer kleinen Laube holt er einen zweiten Stuhl. „Kaffee?“
Ich schwanke kurz. Einerseits müsste ich weiter, andererseits bin ich inzwischen sehr neugierig geworden, und man kann nie wissen, wofür so eine Begegnung gut ist. Also nicke ich.
„Setzen Sie sich bitte. Ronin wird Ihnen Gesellschaft leisten.“
Ronin? Ich betrachte den Hund neugierig. Er sitzt in etwa zwei Meter Entfernung von mir und starrt ins Nichts. Wobei dieser Eindruck garantiert nur täuscht. Als ich testweise eine Hand hebe, habe ich seinen Blick blitzschnell an mir kleben. Ich winke ihm zu. „Braver Hund.“
Der Geheimnisvolle kommt gleich darauf mit zwei Tassen Kaffee