Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederic Wianka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962580544
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Himmel über St. Nikolai, das Grau um den Turm, im Geäst der Bäume, die Wolken einer Zigarette davor. Die Krempen des Hutes, ein umwehtes Dreieck, in der Glut sein Gesicht, das erste Mal: „Da freut man sich auf den nächsten Sonntag. Und dann ist schon wieder Weihnachten.“

      „Sie sind neu in der Gemeinde?“

      „Vor kurzem zugereist.“ Die Hände wie im Zweifel offen. „Eine kleine Stelle im Museum.“

      „Ein Kunstexperte?“

      „Nur ein kleiner Restaurator. Ich bringe den Glanz auf die Bilder zurück, in den Andere sich gerne stellen.“

      „So wenig ist das nicht. Aber was wollen Sie?“

      Zwei schwarze Flächen wie stehende Schatten, ein großer, ein noch größerer, er und St. Nikolai. Eine Wolke noch und eine lässig geschnippte Zigarette. „Ihnen noch einen schönen Advent wünschen. Ich hoffe Sie nächsten Sonntag hier zu treffen.“ Die Hand am Hut, am Dreiecksgipfel, für ein Nicken kurz gehoben, für die kleine Verbeugung auf ein Wiedersehen: „Wenn ich neben Ihnen sitzen dürfte? Ich würde mich freuen … wenn das nicht zu aufdringlich ist?“

      Wortlos hoben sich ihre Schultern. Wortlos war sein Blick auf mich. Ein Lächeln im Ansatz. Schon war der Hut davor, über die Stirn auf den Kopf geschoben. Knirschen. Feste Schritte im nassen Schnee. Eine graue Spur, die sich entfernte.

      Allein mit dem Kind, zwei Plätze auf den Sonntag, für die junge Mutter im Gang vor der Küche am letzten Tisch hinten. Mittagsdunst im Sog blasierter Pinguine, hager oder Schmerbauch, ein Gezwänge durch die Flügeltür, ein Jonglieren wie im Zirkus, gedunsene Gesichter über schweren Tellern. Witterung in den Nüstern, Dampfkringel um die Nasenspitze, stolze Schritte nach jedem lauten Tritt. Ein Äugen von oben sobald die Tür aufschlägt, ein zurückgeworfener Kopf wie am Eingang schon, wie vom Oberpinguin hinter schwerem Butzenglas. Eine Fehlhaltung wie ein Berufsschaden … Die Frau mit dem Jungen an der Hand, in der anderen die Klinke, ihr Ziehen auf verschneiten Stufen, ohne jede Hilfe. Mollige Hitze, eingewobener Bratenduft, Wolken frittierter Kartoffeln, ein Gesicht im Spalt: „Sie werden platziert …“

      Der Rückweg von den Tischen, in geduckter Eile, die Frackschöße wehen, militärmarschzackig wedelt der leere Arm. Der andere ist angewinkelt, eine Serviette fest vor den Bauch gepresst. Ein vaterloser Junge, eine junge Mutter, die Gier kaum verhohlener Blicke. Geile Gedanken, die den Weg verkürzen, den Leerlauf in die Küche zurück, zur Wiederaufnahme der eigenen Wichtigkeit …

      Kein Mangel auf den Tellern. Herr Betriebsdirektor gibt sich und seiner Gattin die Ehre. Sein Parteisekretär in Winkweite am besseren Tisch. Er sitzt abseits, er sitzt oberhalb, sein Platz ist auf der Empore. Seine mit den Sonntagen wechselnden Prasser beim fünften Uhlesekt vor dem Essen kennt man nicht. Herr Direktor kennt aber den Seufzer seines Sekretärs beim Anblick der vollen Teller, beim Gedanken an die hier nie gesehene Frau, alleingelassen bei Kohlrübensuppe zuhaus'. Und er kennt das dümmliche Lächeln ihm gegenüber. Seine brave Gattin, die Unterarme auf dem Tisch, die wippende Dauerwelle auf den Schultern, sein stolzer Pudel. Er sieht das stumm geformte Guten Appetit gegen die Empore, die knallroten Lippen für seinen Sekretär. Peinlich verzerrte Striche. Und er meint ein Wuff zu hören, so grotesk wie verstrickt, dass er sich abwenden muss, dass er ihr zuliebe die freien Tische zu zählen beginnt, während er ihre Klugheit lobt. Oder er zählt die Aschenbecher mit den blechgebogenen Bügeln. Er liest dreimal RESERVIERT, gestanzt in die Bögen. Er fragt sich, ob sie kommen werden, die grauen Eminenzen der Stadt, die Millionäre ohne Geld, die heimlichen Herren von Handel und Wandel. Er hört ein Lachen des Sekretärs, als sehe dieser den Gedanken. Ein lautes Prösterchen beim sechsten Uhlesekt … Adolf Theissen, Fliesenlegemeister, den Herr Direktor beim Gedanken an seinen Hausbau zu treffen hofft. Hannes Jacob, fertig liegt das Blech für den Metzgertresen. Guido Assmann, der Fuhrpark ist geplündert, ein Lada in Teilen für den Fuchs. Alles ist bereitet für die allseits bekannten Könige des Mangels, die immer ihren Tisch bekommen. Wann kommen sie? Schneit es noch? Ist die Kirche aus? Hat der Sekretär genug getrunken? Dass er nicht mehr sieht, als einen kumpelhaften Plausch?

      Süßes Preiselbeeraroma, der Rehbraten dampft, das Tier aus Mecklenburger Forsten, die kleine Charge für den erlauchten Kreis. Gut ausgeblutet, kein Gedanke an das Land dabei, eine rote Spur im Schnee, irgendwer ist immer auf der Jagd. Der größere Teil hängt reiflich ab, Kühlwaggons gen Westen, mürbe wird alles mit der Zeit. „Vortreffliche Qualität.“ Der Kellner nickt sich rückwärts weg und wünscht „Einen guten Appetit“. Er eilt schon wieder den Gang entlang, ein leeres Tellertaxi, von der Klingel gerufen, die ungeduldige Wiederholung im Ohr, die Küche im Blick, eine Beiläufigkeit im Mund: „Wir hätten noch Kartoffelkroketten.“ Die Mutter sagt zu dem Jungen, der zappelnd seine Pommes Frites erwartet: „Mit Bratensoße auch sehr lecker.“ Enttäuscht zieht er seine Hand unter ihrer weg.

      Kalter Duft dünstet aus den Polstern. Hitziger Dunst duftet aus der Küche. Kroketten knistern in schäumendem Öl. Kräuselnde Fahnen, wabernde Wolken, blaue Luft kriecht durch alle Ritzen, dunkle Schwaden schwappen aus der Küchentür, der Junge erschrickt bei jedem Tritt. „Die Hausmarke, bitteschön.“ Das zweite Glas Sekt. Ihr fehlt der Hunger, hat sie gesagt. Sie ist aufgeregt, oder hat nicht das Geld. Sie stößt an, ein Prost gegen seine Brause, er sei ihr kleiner Kavalier an diesem Tag.

      Ketchup und ein schmieriges Grinsen zu den hingeknallten Kroketten. Dampfkringel in Nasenhöhe, verwehte Spitzen, Duft über dem Tellerrand. Die Sauciere kommt mit dem nächsten Lauf, mit einem Bitteschön, einem Guten Hunger, Kleiner, und einem Diener zu viel. Ein Schmeichler gegen die junge Mutter, jetzt ist Zeit, Sättigung im Saal, ranzig klebende Blicke.

      „Wer war das vor der Kirche?“

      „Möchtest du Ketchup auf den Teller?“

      „Kanntest du den Mann?“

      „Du kannst die Kroketten auch in die Soße stippen.“

      „Ich fand ihn unheimlich.“

      „Aber pass' auf, die sind sehr heiß.“

      „Kommt der nächste Woche wieder?“

      „Iss jetzt! Sonst wird es kalt.“

      „Ich will nachher eine Schneeballschlacht machen.“

      „Gegen wen?“

      „Gegen meine Mama.“

      „Wir können heute alles machen.“

      Er nahm eine Krokette mit den Fingern, um sie in die Soße zu tauchen. Er merkte nicht, wie heiß sie war, auch nicht, dass seine Mutter ihm eine Gabel über den Tisch geschoben hatte. Er bemerkte eine Veränderung, aber nichts Offensichtliches, nichts, das ihm erklärlich war. Und erst, als er sie länger ansah, brach ein Lächeln durch ihre Vorsicht, still aber fest, als hätte sie sich dazu entschlossen. Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, wie ein Bild, das er betrachtete, während er merkte, dass ihm selbst das Lächeln misslang. Es war sein Unvermögen jeden Sonntag, wie ein Fernsehprogramm vorherbestimmt der Ablauf, der Versuch der Freude, die er erst mit diesem Sonntag sah. Die Last seiner frühen Kindheit, die ihr durch irgendetwas genommen schien.

      Mir liegt so viel an diesem durch planmäßigen Verrat im Beginn schon zerstörten Moment.

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      UNGARN. Nach einer weiteren, unser Urlaubsland verkündenden Ausweiskontrolle, hinter Nové Zámky, sprühte die tiefstehende Sonne Funken durch wucherndes Buschwerk. Unter ihr zog, in helles Orange getaucht, noch immer diese nie gesehene Weite vorüber, eine staubige Trostlosigkeit aus verbranntem Grün, von ausgedörrten Feldern, erdbraun darniederliegendem Mais. Ich schwieg, denn manchmal wuchs doch etwas, wie zum Trotz oder mir zur Hoffnung, liebevoll gehegt, hausnah auf kleinsten Flächen. Und es waren ja gut zwei Stunden noch bis Budapest, und der Bahndamm näherte sich bald den Wassern der Donau, breit und hoffnungsvoll stimmend.

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      SCHWERIN. Ich erinnere mich nicht an die