Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederic Wianka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962580544
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der erste Urlaub mit einem Freund. (Auf Sommerfrische, wie sie immer sagten und die stolzen FDGB-Heimaufenthalte meinten. Rennsteig, Binz oder Oberwiesenthal - Intelligenz bevorzugt im Arbeiter- und Bauernstaat.) Die sich jährlich wiederholenden Wochen hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt als eine nicht enden wollende Abfolge von Spaziergängen. Tägliche, tagfüllende Wanderungen, auf denen er mit der Karte in der Hand immer vorweg geschritten war, ein unbeirrbarer Eroberer, seine Nachhut keines Blickes würdigend. Ich lief am Ende, beladen mit Fotoapparat, Fernglas und Proviant, den von ihm geschnitzten Spazierstock nutzlos unter den Arm geklemmt oder fest in der Hand, einem Sturmgewehr beim Angriff gleich. Zwischen uns, im freien Raum wie ein Melder zwischen zwei Truppenteilen, ging meine Mutter einsam entschlossen ihr eigenes Tempo. Wenn sie schneller wurde, rückte sie zu ihm auf, ging sie langsamer, fiel sie zu mir zurück. Die Hoffnung ein Bindeglied zu sein, zwischen ihm und mir, hatte sie längst aufgegeben. Unsere Wanderungen verbanden in täglicher Steigerung meiner Langeweile Museen, Kirchen, Höhlen, Ruinen, Aussichtspunkte. Und stets hatte ich die Ausrüstung bereitzuhalten. Fotoapparat und Fernglas hingen mir an zu langen Lederriemen vom Hals herab, bedrohlich nah dem Schritt. Gekreuzt darüber und einen Arm hindurch gesteckt, lag der Riemen der Brottasche, damit beides beim Gehen nicht allzu sehr hin und her schlug, dass beides gebremst wurde vom Gewicht der belegten Brote, Äpfel, Kohlrabis oder was ich sonst in dieses peinliche Relikt aus meinen Kindergartenzeiten zu stopfen hatte. Wenn er auf diesen Wanderungen plötzlich stoppte und so reglos dastand, als könnte die kleinste Bewegung einem imaginären Feind unsere Anwesenheit verraten, wenn er wortlos, vor Wichtigkeit fast platzend, irgendwohin schaute, auf eine Lichtung, einen Fluss, eine Straße, einen Steinbruch oder sonst etwas Belangloses, das bloß deshalb von Bedeutung war, weil es auf einmal vor ihm lag, dann wartete er, bis wir aufgerückt waren, bis er unvermittelt seine Hand nach hinten strecken und das Fernglas von mir verlangen konnte. Sofort legte ich den Spazierstock zu Boden, hob den Riemen der Brottasche über den Kopf, klemmte sie mir zwischen die Beine, entwirrte die beiden anderen Riemen und gab es ihm. Er, nun mit dem Fernglas vor den Augen, die Ellenbogen parallel zum Horizont, beobachtete die Landschaft, um meiner Mutter, der gelernten Fotografin, ein geeignetes Ziel zuzuweisen. Damit sie, ob Weitwinkel oder Fokus, es festhielte, zum Beweis der Schönheit unseres Urlaubsortes. Aber ich, der hinter ihm stand, die Hände längst am Fotoapparat, bereit ihn meiner Mutter zu geben, wenn er als ausreichend erachtete, was er sah, stellte mir seine ausgestellten Ellenbogen als Flügel vor. Ich sah ihn von geheimnisvollen Winden in die Luft gehoben, auf Höhe der Baumwipfel in die Weite getragen, wo ihn der Zauber meiner Phantasiewelt stets verließ.

      Einmal aber ist mir alles durcheinandergeraten. Ich war aus seinem Schatten getreten und stand neben ihm. Ich hielt das Fernglas fest, während ich den Riemen des Fotoapparats über den Kopf hob und talwärts schaute. Vor mir die Tiefe, die meine Augen verzweifelt absuchten: Ein friedlich scheinender Bach zerschnitt das steile Massiv, waghalsiges Fachwerk ränderte die Ufer, ein klappriges Wasserrad drehte sich, wie sich seiner Bestimmung erinnernd. Türme von Holzscheiten, wo die letzten Freiflächen gewesen waren. Nirgends ein ordentlicher Platz für den erträumten Absturz. Enttäuscht glitt mir der Riemen aus der Hand, und der Fotoapparat schlug auf den Fels. Als ich das abgebrochene Objektiv auf dem Boden vor mir sah, daneben den Apparat mit der geborstenen Fassung, das schwarze Loch, in das dieses unergiebige Tal hatte gebannt werden sollen, überlegte ich, ob es noch sinnvoll sei, ihm das Fernglas zu geben. Ich muss gleichgültig ausgesehen haben. Aber vielleicht war mir auch eine heimliche Freude anzusehen: Kein Absturz – keine Urlaubsfotos. Meine Genugtuung war so schlicht, wie seine Reaktion darauf. Meine Mutter hatte neben uns gestanden und kurz seiner Wut zugesehen, bevor sie etwas sagte. Ich weiß nicht, ob sie erst überlegen musste, wem ihre Abneigung in diesem Moment galt, ihrem Mann oder mir. Schließlich hatte ich ihren Fotoapparat fallen lassen, ein Erbstück ihres Meisters. Materiell ersetzbar in einem antiquarischen Land. Ideell aber ein Verlust, der wenigstens so schwer wog, wie ihre kleine Illusion eines Familienlebens mit seiner Aufgabenteilung, die, von mir zerbrochen, vor ihr lag.

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      UNGARN. Bei Wehlen bin ich aufgewacht. Dresden hatten wir verschlafen. In meinem Mund der durch trockenes Schlucken nicht zu unterdrückende Geschmack meines ungeübten Magens. Meine Gedanken kreisten ausschließlich um den brennenden Durst, hilflos im Bedenken, den Weg zum Speisewagen nicht schadlos zu überstehen. Schnarchgeräusche in verschiedenen Rhythmen erfüllten die schlechte Luft. Meine Augen hielten sich in Sprüngen an fernen Punkten fest, unten zog das Elbtal vorüber. Bergesgrün wechselte mit Überhängen aus Granit, Häuser dort, wo Platz war, Gemütlichstes aus Fachwerk und Stein. Meinen Augen drängte sich eine Landschaft auf, die in ihrer Romantik, ihrem Wechselspiel aus Urwuchs und Lieblichkeit nicht passen wollte zu unserer Republik. Allmählich füllte sich das Tal mit vermehrter Bebauung, mit zweckgebundenem Grau, dem gewohnten Alltag, einem freudloseren Verlauf der Zeit, seinem Zehren von Substanz in bleichenden Jahrzehnten. Bad Schandau kündigte sich an, der letzte Halt in jenem Land. Der Zug rollte in einer Verbreiterung des Tals aus. Wie eine Terrasse hing der Bahnhof an den Berg gebaut. Jenseits des Bahnsteigs gefiel sich die Elbe in einem funkelnden Spiel. Hinter ihr lag das zierliche Städtchen, das mittels einer Brücke mit der Hälfte der Welt verbunden war.

      Die Luft schien marmoriert. Eine trockene, flirrende Hitze über dem heißen Stein, geteilt von schwachen Böen, vom Fluss aufwärts geblasen, leicht kühlend und etwas feucht. Ich lehnte über dem heruntergezogenen Fenster. Ich sah einzelne Reisende sich nach ihren Koffern bücken, wenige standen zu zweit, den Abschied im Gesicht. Ich sah eine Gruppe, vier oder fünf, die Rucksäcke schultern, irritierend lustig in der ganzen Szenerie. Abseits sah ich ein Paar in stummer Umarmung, bis er sich losriss. Sie, die tränennasse Hand für ein Winken ausgestreckt. Er, eine verzweifelte Frage auf den unbewegten Lippen. Und ich sah mich in meiner Erinnerung, meinem Wunsch zu dieser Reise ausgeliefert, seiner wochendauernden Prüfung. Und an beiden Enden des Bahnsteigs sah ich eine Gruppe, vier Mann jeweils, zwei in einem dreckigen Grau und daneben zwei in modrigem Grün. Die letzten, die zustiegen.

      Der erste Grenzübertritt in meinem Leben, und eine Visumskontrolle, und ich weiß nicht, wo er stattgefunden hat. Kein Hinweis, nur andere Bahnzeichen mit einem Mal. Der Zug schlängelte am Fluss entlang, unten die Schleppkähne, oben mäanderte eine gewaltige Festung mit, ein poröses Herrschaftszeichen anderer Zeiten, kurz vor Decín. Im Abteil herrschte ein verkaterter Unwille, ein stetes Beinverhaken, ein fortgesetzter Schlafversuch, gestört vom Ausrollen des Zuges. Unser Wagen stand unter dem Bahnhofsdach, in günstig fallendem Schatten, ein kühlendes Dunkel, die Sonne schien unseren müden Augen unerwartet wie ein fernes Licht. Dein bleiches Gesicht, kurz dem Fenster zugewandt, dem Bahnsteig und dem Treiben dahinter: Fernzugreisende, Prag als Ziel, Bratislava oder noch viel weiter. Du hattest Deine Lippen gespitzt, als wenn Du etwas sagen wolltest. Ich hob fragend die Schultern, wartete und ließ sie sinken, als Dein Mund sich wortlos wieder schloss, als Du Dir den Schweiß aus dem Gesicht wischtest. Ein Pfiff, der Ruck der Lokomotive, Dein Kopf fiel gegen das Polster. Ich öffnete das Fenster, solange bis der Fahrtwind zu heftig schlug. Der Zug war aus der schmalen, zwischen die Berge gezwängten Stadt gerollt. Parallel zum Fluss, der sich mit ihr diese Enge teilte, trieben wir in das Tal eines breit zerschnittenen Gebirgsmassivs, in ein Land hinein, das noch viel älter aussah als unseres. Die Sonne spielte Seitenwechsel in jeder Kurve. Manchmal konnte ich aus einem schattigen Tal auf sonnenbeschienene Berge sehen. Das Schwarzgrün der Wälder unten, die Wipfel auf den Kuppen wie goldbetupft – eine Märchenwelt mit guten und mit düsteren Geschichten.

      Die Elbe verließ uns, unser Begleiter. Sie bog ab und kam wieder. Oder war es schon die Moldau? Wieder Berge zu den Ufern. Plattenbauten obenauf, irritierend hässlich wie eitrige Nasenpickel … belle vue für alle, dachte ich, bis ich sah, der Ausblick war verschenkt, dem Standard geopfert, parallele Reihen zur Kuppe hin. Und kein Fenster an den flusszugewandten, schmalen Seiten kümmerte sich um ihn.

      Wir hatten Prag erreicht. Eine Stadt wie ein ungeputztes Mittelalter, in einer vernebelten Gegenwart gefangen, verraucht, verrußt, grauverschleiert, ohne jeden Sinn für Fassade. Mit einer letzten Dieselwolke, in der letzten engen Kurve von unserem Wagen aus zu sehen, bremste der Zug in den Bahnhof hinein, unter ein Dach aus rußbelegtem Glas. Das Gedränge auf dem Bahnsteig verdoppelte sich mit dem Öffnen der Türen. Ein Strom auf der Treppe, aus dem Bahnhof hinab, in die die goldene Sonne schluckende