Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederic Wianka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962580544
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Ablauf, nur an diesen wie ein plötzliches Standbild mit Überbelichtung in die Hornhaut gebrannten Augenblick. Ich weiß nichts mehr von meinem Hinkommen, nichts davon, was ich trug oder bei mir hatte, nichts, das mir Aufschluss geben könnte. Und im eigentlichen Sinn hat meine Erinnerung auch kein Bild von meinem Dortsein. Ich weiß nur, dass ich fror in seiner Nähe.

      Ich erinnere mich an ein Schneeweiß, dass sich spiegelte oder wiederfand, als hätte ich selbst daringestanden. An die Eislandschaft, ein klirrender Winter. An den Wanderer zwischen zwei toten Bäumen auf einen Stock gestützt, vor Kälte krumm, in dem ich mich sah. An seinen sichtbaren Zweifel beim Ausblick von der Höhe über die Stümpfe eines abgeholzten Hains, über vereiste Wellen hinweg. Kein Ziel lockt am Horizont, nirgends ein warmes Licht, nur frostige Leere und das Drohen des schwarzen Himmels. Der Schneesturm bricht los … Oder sind es nur die Risse des alten Öls? Verloren steht er zwischen beiden noch nicht verfeuerten Bäumen. Krumm wie sie. Wie gefroren oder wie in die Landschaft gewachsen, schmächtig und kaum höher als jeder tote Stumpf. Vom Kommenden erzählt letztendlich die Wahl der den Bäumen gleichen Farben.

      Er steht … Ein Noch in Öl. Ein aus der Zeit genommener Moment. Ein stetes Kippen in den nächsten Augenblick. Ich blinzelte im Fortlauf furchtbarer Erwartungen … Eine erzählte Sekunde, aus der die Phantasie sich Geschichten log, mit jeder nächsten in Varianten eine andere. Die Wahrheit folgte, wie auf Anfang gesetzt, mit jedem Blinzeln neu von vorn: Er steht immer noch … Wie seit den Jahrzehnten, die ich ihn kenne, wie seit zweihundert Jahren schon, wie alle kommenden Milliarden Sekunden.

      „Hallo … Nicht träumen!" Seine Hand fuhr wie ein Scheibenwischer durch Eis und Schnee. Meine Geschichten verschwammen wie hinter Schlieren. Das Bild dagegen eindeutig und klar. Kein Davor, kein Danach. Es war da als ein für immer aus der Zeit herausgeschnittener Augenblick. „Mit Galle kommt der Firnis weg." Er fuhr mit der Hand auf meinen Bildern umher, tippte Punkte in die Luft, zog Striche und Kreise. „Wir kitten die Risse zwischen den Erhebungen zu. Und unser Maler retuschiert die Stellen mit sorgsam abgemischtem Aquarell."

      Ich verstand nichts. Oder ich hörte es nicht. Vielleicht hörte ich es, sah aber nichts als wieder nur die Bilder meiner Phantasie hinter seinen Kreisen. Unbelehrbar malte sich mein Träumen auf die Leinwand. Wieder spielte sich der Beginn der Geschichte ab, bis auf den Hügel hinauf, ihr unwillkürlicher Fortgang, der Versuch mit letzter Kraft, schließlich das Straucheln … Oder doch ein fernes Licht, das aufglimmt? Ein rettendes Ziel, das sich auftut? „Hallo!" Ein Schnipsen seiner Finger vor meinen Augen, solange bis ich zu ihm aufsah. Wie in einem Gestöber stand er vor mir, plötzlich, verschwommen und unklar, in seinem Restauratorenkittel sichtbar erst im allerletzten Augenblick. Ein Weiß, zerflossen in meinem Gewirr von Eis und Schnee. "Interessiert dich das gar nicht?" Doch, doch …nickte ich meine Lüge gegen die Ungeduld in seiner Stimme. „Und … Was habe ich gerade erzählt?" Ich nickte wieder, im Suchen seiner Worte, angestrengt zwischen dem Bild und ihm, in einem Hin und Her. Ich sah seine Hände tief in den Kitteltaschen. Ich hörte die Schärfe seiner Wiederholung, „… und, hast du diesmal zugehört?" Ich hatte zugehört. Und als wenn er meine Frage ahnte, fuhr er fort: „Das machen wir, damit so dumme Lümmels wie du auch die nächsten hundert Jahre noch staunen können."

      Ich hörte sein Luftholen: „Ein Meisterwerk. Der Stolz des Museums. Von mir bekommt es seine Leuchtkraft zurück. Dafür hat man mich hergeschickt." Seinen eigenen, erwartbaren Stolz hörte ich nicht. Etwas Anderes schwang in seinen Worten mit. Und zugleich dachte ich über die Leuchtkraft nach, die dem Bild fehlen sollte. Wie sie sich vertrüge mit dem zugezogenen Himmel, dem dunklen Drohen dieses fürchterlichen Winters. „Träumen sich deine Gedanken immer noch durch die Winterlandschaft …?"

      Kaum etwas klingt so nach wie der Name Caspar David Friedrich. Wenig ragt wie dieser Moment aus meiner Kindheit herüber. Und wenn ich mir die Frage stellen würde, bei allem was ich kürzlich in den Akten las, wie weit eine Dankbarkeit in diesem Wissen noch zu reichen hätte: Ich sähe mein Glück und mein Scheitern gegen seinen Verrat.

      Aus Kritzeleien und der schnellstmöglichen Betuschung von Papier wurden erste Versuche, sehr kindlich und darum äußerst ernsthaft. Ich füllte Malblöcke aus hergenommenen Vorlagen, ein Abmalen alles Gesehenen, was mir in die Hände fiel, nach dem einen Kriterium nur, ob es mir als eine ausreichende Herausforderung erschien: Tiere natürlicherweise, Pflanzen jeder Art, auch Autos, Flugzeuge und anderes, was Jungen begeistert, Glückwunsch- und Weihnachtskarten gingen nur noch von mir gemalt in die Post. Blumensträuße, Obstkörbe, Waldwiesen, alles was sich aufdrängt in diesem Alter. Die Ratschläge meiner Mutter nahm ich zu ihrer Freude meistens an, oft im Scheitern vieler Versuche. Mit zunehmender Übung aber gelang mir nach meinen kindlichen Kriterien viel. Nur mit Landschaft tat ich mich schwer. Aus der Fläche wollte mir nie Tiefe erwachsen, die Farbwahl war nie ein Griff, kein Kontrast erreichte Dramatik. Aber ein aufregendes Gefühl malte mit, eine Unruhe, die ich nur nirgends entstehen sah. Enttäuschung und Ärger, eine regelrechte Wut erfasste mich beim Anblick der meist sonnendurchfluteten Flächen. Einen strengen Winter, einen peitschenden Sturm oder einen bloß drohenden Himmel wagte ich nie.

      Ich malte. Ich füllte Kartons mit Farbe. Ich bekleckste alles, was mir als Malfläche nicht verboten war. Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem neuen Kinderzimmer saß und nichts Anderes tat.

      Kindliche Meisterschaft entstand, wie Beschenkte ernsthaft meinten. Mitunter gelobt war der Witz, mein naiver Bruch des Dargestellten. Ein Sehr schön nahm ich als Geringstes hin. Er dagegen, mit den Meistern in nahezu intimer Kennerschaft vertraut, ließ die vielen Chancen ungenutzt. Er rümpfte die Nase über meinen Materialverbrauch. Nie sah ich mehr als ein zügiges Durchblättern der Bilder, eine lästige Pflicht, von der ungewollten Vaterrolle auferlegt. Kein Bezug merkwürdigerweise. Keine Hilfe, kein Leiten … Verschwendung hörte ich ihn einmal sagen, ohne zu wissen, ob er seine Zeit meinte oder meine.

      Trotz? Vielleicht. (Wer, egal wie alt, malt nur um seinetwillen?) Ich war eine Last. Und ich spürte, als fleißiger Maler konnte ich sie ihm umso mehr sein. Was wusste ich von den dauerhaften Zwängen seiner Fassade? Das hier ist ganz nett. Ein Standard, den ich so wenig vergessen habe wie sein Gesicht, wenn ich ihn nötigte, sich meine neuesten Bilder anzusehen. Ein aufgedunsenes Violett, das sich über sie beugte, verfärbt nach wenigen Tagen der Abwesenheit. Eine Folge der Anstrengungen, von denen er erklärend sprach, jene zermürbenden Dienstreisen, die ihn derart forderten, während er sich, sein wachsendes Doppelkinn befreiend, am Hemdkragen zog. Ende Zwanzig, ein Leben zwischen Funktion und Verbrauch. Narkose als einfache Antwort auf das Gewissen, auf das Wissen um diesen unwiderruflichen Schritt zu weit. Leere und Selbstentfremdung im dauernden Spiel der vorgesehenen Rolle: der spionierende Ehegatte – ein benutztes Leben. Gefangen in jeder Hinsicht, unfreier als alle Anderen in diesem Land. Das Ersticken an der späten Erkenntnis, des an der eigenen Person erfolgten Missbrauchs.

      Schweiß auf der Stirn. Ein glänzender Film im zurückgewischten Haar. Tropfen auf der Nackenfalte. Der Hemdkragen wie Löschpapier. Ein Dreieck im Rücken. Halbmonde unter den Achseln. Weißer Stoff, nasses Grau. Durchschimmernde Haut bis an den Rand des Unterhemds. Zittrige Hände, trockengewischt an den Oberschenkeln. Ein Streichholz, die nächste Zigarette. Glut an der zitternden Spitze. Tröpfchen auf den gierigen Lippen. Der Filter halb verschlungen. Heftiges Saugen. Lautes Knistern. Geschwellte Brust. Qualm in den Lungen. Der schnelle Ersatz für das benötigte Glas. Die Sucht für einen Zug überwunden, die Gier nach dem gewohnten Halbrund, kühl und schweißhemmend schon im Anschmiegen der Lippen. Ich genoss diesen Anblick wie das Ergebnis einer Rache. Mir gefiel es, in seinen Wolken zu stehen, neben seinem Sessel, provokant die Ergebnisse der letzten Tage in der Hand.

      Auch wenn ich nicht dafür gepinselt hatte, einige der frühesten Bilder entstanden nur, weil das Kind ihn für sich einnehmen wollte: Greifen nach dem, was möglich scheint. Ausdauernde Mühe. Und am Wunsch gemessen, die regelmäßig scheiternden Versuche. Nichts gelingt aus sich. Auch diese Erkenntnis, neben der Malerei selbst, verdanke ich ihm – Zuversicht ist eine Bedingung des Scheiterns. Das Dritte letztlich, was er mich unbewusst lehrte, dass Aufmerksamkeit etwas ist, wofür man kämpfen muss.

      Versagen, was ohnehin zu lernen war, steht als Teil des Weges in meinen frühesten Erinnerungen: Der Einzige mit Bezug, wie ich glauben musste. Nicht verstoßen von ihm,