»Sehr wohl, Durchlaucht«, bestätigte die Hausdame. Allerdings mißbilligte sie diese Entscheidung des Fürsten. Als Frau meinte sie, die Kinder hätten jetzt ihre Mutter verloren und bräuchten um so dringender die Liebe ihres Vaters. Wortlos ging sie, um die notwendigen Anweisungen zu geben.
An den Fürsten kamen nun all die qualvollen Formalitäten heran, die sich durch den Tod seiner Frau ergaben. Außerdem kaufte er telefonisch einen neuen Wagen und engagierte dazu Franz Zellmeyer, einen alterfahrenen Privatchauffeur, einen Mann von fünfzig. Die Zeit drängte, und Fürst Rainer von Wildberg-Kallau wußte, daß er sich nun keinen Fehler mehr leisten durfte.
Da war vor allem seine Schwiegermutter, die Fürstin Thea.
In der Nacht vor der Reise überlegte Rainer von Wildberg immer wieder, welche Botschaften ihm Vera an ihre Mutter aufgetragen hätte.
»Einen Strauß Rosen aus dem Garten«, murmelte der Fürst. »Ja, Vera würde mir Rosen mitgeben. Und wenigstens ein paar Grußzeilen.«
Es war heiß und schwül im Raum. Rainer spürte, wie sein Puls flog, wild und unregelmäßig. Er warf sich qualvoll von einer Seite auf die andere. Das Ringen um ein paar Minuten Schlaf, das Sichvergraben in peinigende Gedanken und das hoffnungslose Suchen nach Auswegen, die es nicht gab, erschöpfte den Fürsten beinahe mehr, als wenn er in dieser Nacht überhaupt nicht zu Bett gegangen wäre.
*
Als Fürst Rainer von Wildberg in das Sprechzimmer des Chefarztes trat, war ihm, als hätte er im Gesicht des Professors ein Erschrecken gesehen. Deshalb fragte er gleich nach einigen Begrüßungsworten: »Wie geht es der Fürstin von Vingenstein?«
Seine Stimme zitterte leise aus Angst vor einer Wahrheit, die er ohnehin kannte. Über das hagere, scharf geschnittene Gesicht von Professor Wernhoff legte sich ein Lächeln: »Ihre Durchlaucht fühlt sich wunderbar. Keine Schmerzen. Guter Dinge und überzeugt, die Klinik in etwa drei Wochen verlassen zu können.«
Nur einen Augenblick lang erlag der Fürst der Illusion, der Professor hätte sich mit seiner ersten Diagnose geirrt. Er fragte: »Die Wahrheit?«
Wunderbarerweise zitterte die Stimme des Professors nicht im geringsten: »Tut mir leid, Durchlaucht. Aber ich fürchte… noch höchstens drei Wochen. Gerade die Hochstimmung könnte das Ende ankündigen.«
Fürst Rainer verließ das Büro des Professors wie in einem schweren Alptraum. Automatisch bewegte er sich weiter und konzentrierte sich geradezu verkrampft darauf, seine Rolle während der nächsten zwei Stunden ohne Pause spielen zu können.
Fürstin Thea erwartete ihn schon. Selbst das kunstvolle Make-up konnte nicht die Totenblässe in ihrem Gesicht verheimlichen.
»Lieber, lieber Rainer!« rief sie und streckte ihm beide Hände entgegen, die er ergriff und erschüttert küßte. Wie schmal waren sie geworden, hager, beinahe durchsichtig zerbrechlich. »Wie freue ich mich! Aber stell dir vor, ich kann wieder nicht mit dir heimkommen. Sie haben an mir noch einmal herumschneiden müssen. Irgend etwas ist nicht ganz in Ordnung. Ich kann meine Beine kaum bewegen, Rainer. Mich tröstet nur, daß ich keine Schmerzen habe.«
Morphium! durchjagte es den Fürsten. Morphium schenkt ihr dieses trügerische Glücksgefühl vor dem Ende! Laut sagte er: »Liebste Mama, du mußt nur noch ein bißchen Geduld haben. Nimm es nicht zu schwer, ich bitte dich! Vielleicht ist es das nächste Mal schon soweit.«
Der Fürst verstummte entsetzt, weil er aus seinen Worten den unbeabsichtigten Doppelsinn heraushörte. Thea von Vingenstein hingegen lachte glücklich, hielt die Hand ihres Schwiegersohns fest wie eine Ertrinkende. Sie litt Angst, das hörte man! Selbst die stärksten Betäubungsmittel konnten ihr den Sinn für die Wahrheit nicht ganz nehmen. Rasch, beinahe hastig, fragte sie: »Wie kommt Vera mit den Kindern zurecht? Sie ist doch gewohnt, daß ich ihr stets in allem Schweren hilfreich zur Seite gestanden habe. Bitte, Rainer, sag Vera, daß ich sehr bald kommen will.«
»Ja, Mama, ich werde es Vera sagen«, preßte der Fürst hervor. Dann spann er seine frommen Lügen weiter: »Vera hat mir einen Brief an dich mitgegeben, und die Rosen hier hat sie eigenhändig noch heute im Morgengrauen für dich geschnitten.«
»Rosen von daheim!« freute sich die Todkranke. »Rainer, ich will heim. Bitte, frag doch den Professor, ob er mich nicht wenigstens auf meine eigene Verantwortung entlassen will! Weißt du, die Ärzte sind manchmal überängstlich, aber ich fühle mich schon so gesund…«
Gleich darauf las die Fürstin das Billet, das Rainer im Namen Veras geschrieben hatte. Plötzlich schwand das frohe Leuchten aus dem schmalen Gesicht der alten Dame. Es verfiel von einer Sekunde zur nächsten, so daß der Fürst schon heimlich zur Alarmglocke tastete. Aber Fürstin Thea murmelte nur: »Hat das wirklich Vera geschrieben? Sie muß sich ziemlich arg an der rechten Hand verletzt haben, denn ihre Schrift wirkt so fremd. Rainer! Sag mir die Wahrheit! Du schuldest mir die Wahrheit in allem, denn ich bin kein unverständiges Kind. Und mich wirft auch so schnell keine böse Nachricht um: Ist Vera ernsthaft verletzt?«
Fürst Rainer versuchte ein amüsiertes Lachen und wunderte sich, wie gut es ihm gelang; aus Liebe zu dieser wunderbaren alten Dame brachte er es zuwege. Zärtlich küßte er die nervös zuckenden Finger und rügte: »Mama, du bist so mißtrauisch. Sag: Habe ich dich schon einmal beschwindelt? Du weißt doch, wie lieb wir dich haben! Vera freut sich schon so sehr auf deine Heimkehr, und erst recht die Kinder! Niemand kann vor dem Einschlafen so wunderbar Märchen vorlesen wie Oma!«
»Ronni und Reni!« Die Fürstin schloß die Augen. Sie sah die Gesichtchen der beiden Enkel vor sich. Ein glückliches, zärtliches Lächeln machte ihre scharf gewordenen Gesichtszüge schön. Ohne die Augen zu öffnen, bat sie beinahe flehend: »Rainer, du mußt es mir versprechen. Wenn ich einmal nicht mehr sein werde, mag geschehen was immer, mag um dich die Welt untergehen: Ronni und Reni müssen für dich das Wichtigste bleiben! Sag ihnen, wie lieb ich sie habe… wie unendlich lieb… die Kinder, Vera, und dich, mein lieber Rainer.«
Die Augen der Kranken waren geschlossen. Im Gesicht vertieften sich die Schatten erschreckend schnell. Der Fürst drückte die Rufklingel, und beinahe im nächsten Augenblick kam schon die wachhabende Schwester. Sichtlich erschrak auch sie, neigte sich über die Fürstin und fühlte zugleich den Puls.
»Ist sie…?« Fürst Rainer spürte plötzlich, wie nahe er dem Ende seiner seelischen und körperlichen Kräfte schon war.
Die Schwester schüttelte den Kopf und lächelte ihm ermutigend zu.
»Durchlaucht ist eingeschlafen«, erklärte sie. »Die Operation, die vielen starken Medikamente. Jetzt noch die freudige Erregung. Erlaucht hat so sehr gewartet.«
Mit einem Kopfnicken dankte Fürst Rainer für diese Worte. Er trat leise ans Fenster, wo er regungslos stehen blieb. So verging viel Zeit. Dann kam der Oberarzt in Begleitung zweier Schwestern ins Zimmer. Er warf einen kurzen Blick auf die Schlafende und trat dann zum Fürsten, zu dem er sagte: »Ich nehme an, es wäre besser, den Besuch für heute zu beenden. Die Aufregung beanspruchte die Patientin zu sehr. Sie schläft, und es wäre gut…«
Rainer Fürst von Wildberg-Kallau verließ das Krankenzimmer. Von der Tür aus warf er einen letzten Blick auf die Frau zurück, die ihm nicht weniger bedeutete als einst seine eigene Mutter.
*
Dr. Bernhard Waller erwartete den Fürsten bereits und führte ihn in seine Privatwohnung, die der Praxis angeschlossen war. Fürst Rainer berichtete mit wenigen Worten über den Gesundheitszustand seiner Schwiegermama und schloß: »Keine Hoffnung, Bernhard. Vielleicht war das heute schon der Abschied für immer.«
Der Anwalt sprach es nicht aus, aber er blickte voll Mitgefühl auf den völlig entnervten Freund und dachte: Du würdest nicht mehr lange durchhalten. Laut sagte er: »Es ist mir gelungen, jemanden zu finden, der – wenigstens nach meiner Überzeugung – genau deinen Erwartungen entsprechen könnte. Fräulein Bonnhaus kommt aus bester Familie. Leider starben vor zwei Jahren