Diesmal aber wendete sie ein: »Ausnahmsweise einmal nicht. Ich habe vorhin meine Bluse von einem Stubenmädchen aufbügeln lassen, denn sie war von dem Sicherheitsgurt während der Fahrt ganz kraus geworden. Rainer, ich kann unmöglich mit ganz krauser Bluse ins Restaurant gehen!«
Es entspann sich zwischen Vera und Rainer sogar ein etwas unwillig geführtes Gespräch; zuletzt gab der Fürst den Argumenten seiner Frau nach.
»Ich werde besonders langsam fahren«, täuschte er sich selbst darüber hinweg, daß er gegen seine Überzeugung handelte. Er fuhr also los. Manchmal schaute er in den Rückspiegel; dann begegneten seine Blicke denen seiner Schwiegermutter. Die Kinder jauchzten vor Vergnügen, weil niemand mit ihnen so lustig spielen konnte wie Oma, wozu auch beitrug, daß sie die alte Dame nun schon längere Zeit sehnsüchtig vermißt hatten.
»Eine wunderbar ausgebaute Straße«, stellte Vera fest. »Nach jeder Kehre bietet sich einem ein völlig anderer Ausblick. Imposant! Rainer, bist du lieb und fährst du einen Augenblick lang in diese Ausweiche?«
Selbstverständlich kam der Fürst dem Wunsch seiner Frau nach, und so ging der Tod haarscharf an ihnen vorüber. Als sie sich nämlich nachher wieder in die Fahrspur einordnen wollten, kam bergab ein roter Sportwagen um die völlig unübersichtliche Kurve gejagt. Es sah aus, als würde sich das Fahrzeug im nächsten Augenblick überschlagen und in die Tiefe stürzen.
»Ein Wahnsinniger!« schrie der Fürst in heller Empörung. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er im offenen Sportwagen zwei junge Gesichter vorbeirasen, beide wie in ekstatischem Lachen verzerrt.
Von solcher geradezu selbstmörderischer Sorglosigkeit noch beeindruckt, lenkte Fürst Rainer den Wagen besonders vorsichtig vom Parkstreifen heraus auf die rechte Fahrbahn. Und dann geschah es im nächsten Augenblick. Binnen weniger Sekunden zerbarsten Leben, Gesundheit und das Glück einer bis dahin heilen Familie in einem unvorstellbar grauenhaften Aufprall.
Wieder jagte nämlich ein Sportwagen um die Kurve, schnitt sie in der Innenlinie an. Auch hier zwei blutjunge Gesichter, in Panik zu einer stummen Fratze verzerrt. Zwei zum lautlosen, gellenden Schrei aufgerissene Münder. Mit einem kaum mehr wahrnehmbaren Krachen prallten die beiden Wagen gegeneinander, vergruben sich Stahl in Stahl. Das Auto des Fürsten wurde gegen die Felswand geworfen, sprang davon zurück, stellte sich quer und wurde umgestürzt. Der talwärts fahrende Sportwagen stellte sich, langsam wie in Zeitlupe vorwärts auf die Stoßstange, balancierte auf den Scheinwerfern und überschlug sich zweimal, sprang auf wie ein Gummiball und jagte in die Tiefe. In der nächsten Sekunde ein markerschütternder Aufprall, gleich darauf knallende Detonationen.
All das hörte und sah Fürst Rainer von Wildberg-Kallau, als gehörte er nicht mehr dazu. Er fühlte sich von einer unsichtbaren Faust vorgerissen, hing schmerzhaft in den Sicherheitsgurten; dann bekam er einen mächtigen Faustschlag ins Genick, einen in die Magengrube. Wenn nur die Kinder nicht so gellend geschrien hätten! Fürstin Thea, soeben sechzig geworden, stieß ein Röcheln aus, das in Ohnmacht erstickte. Und durch die zerschmetterte Windschutzscheibe trug eine unsichtbare Kraft Fürstin Vera davon, warf ihren Körper gegen den Felsen, den Kopf voran. Seltsam verkrümmt blieb die junge Frau auf einer Felszacke hängen. All das geschah in wenigen Sekunden! Der Fürst hing hilflos in den Gurten. Seltsamerweise dachte er noch immer völlig logisch! Er sah ganz bewußt seine geliebte Frau gegen den Fels prallen und wußte, daß sie nun tot war. Schon weit, weit fort von ihm! Das unentwegte Entsetzensgeschrei seiner Kinder machte ihn glücklich. Sie lebten! Wenn nur Fürstin Thea nicht so qualvoll geröchelt hätte…
Die Kinder weinten immer noch. Sie weinten auch noch, als ihr Vater schon das Bewußtsein verloren hatte.
Fremde Menschen versuchten, die Wagentüren aufzureißen, aber sie klemmten. Also schlugen die Retter die sonderbarerweise heil gebliebenen Seitenscheiben ein.
»Nein!« schrie Klein-Reni und streckte die Händchen nach dem regungslos liegenden Körper ihrer Mutter aus.
Ronni klammerte sich verzweifelt an dem fremden Mann fest, der ihn forttrug und in ein anderes Auto setzte. Erst als dieses Auto mit ihm davonfuhr, begann auch der Junge in fassungslosem Entsetzen zu schreien.
*
Etwa eine Stunde später erwachte Rainer Fürst von Wildberg-Kallau langsam aus seiner Benommenheit. Je klarer er wieder denken konnte, desto entsetzter merkte er, in welche Hölle aus Verzweiflung und Trostlosigkeit er zurückkehrte.
Der Sportwagen an der Kurve! Die lautlos schreienden Münder der jungen Menschen in den Sekunden vor ihrem Tod… und Vera! Vera, die wie ein Stein durch die zerborstene Windschutzscheibe fiel, gegen die Felswand prallte.
»Vera!« Der Schrei des Fürsten gellte erschütternd durch die Räume der Klinik. Es war der Verzweiflungsschrei eines Menschen, der nun schlagartig erkannte, daß für ihn das Glück zerborsten war. Im Bruchteil einer Sekunde! Vera… »Vera!«
Eine wachhabende Krankenschwester stürzte an sein Bett, betätigte den Alarmknopf, aber diesen geradezu unmenschlichen Schrei hatten ohnehin auch die Ärzte gehört. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen, zwei Ärzte und einige Schwestern rannten herein. Sie warfen sich über den Fürsten, der mit den übermenschlichen Kräften eines Verzweifelten versuchte, sich freizukämpfen. Dabei spürte er keine Schmerzen.
»Fürst!« schrie ihn ein junger Arzt an. »Ihre Kinder sind unverletzt! Völlig unverletzt!«
»Vera!« röchelte Rainer von Wildberg-Kallau mit letzter Kraft.
Die beiden Ärzte warfen einander vielsagende Blicke zu. Einer streckte die Hand aus, und eine Krankenschwester reichte ihm die vorbereitete Injektionsspritze. Noch einmal bäumte sich der Verzweifelte auf. Die Nadel fuhr ihm in die Vene. Schon einige Sekunden später entkrampfte sich der Körper.
»Sie war sofort tot«, sagte der eine Arzt, als beide wieder im Flur standen.
Und der andere: »Ach ja, keine Sicherheitsgurte genommen. Und wie geht es der alten Dame?«
»Der Chef operiert. Meiner Überzeugung nach: aussichtslos.«
*
Nach drei Stunden war das Schicksal der Fürstin Thea von Vingenstein entschieden. Um etwa dieselbe Zeit erwachte auch Fürst Rainer aus seinem todesähnlichen Schlaf. Wieder mußte er die grauenvollen Stufen zwischen Ahnungslosigkeit und dem Erkennen der tragischen Wirklichkeit durchschreiten. Allerdings half ihm diesmal die dämpfende Wirkung der Medikamente, das Schwerste zu ertragen.
»Professor«, bat er und suchte tastend nach der Hand des weißhaarigen Arztes. »Sagen Sie mir die Wahrheit, ich flehe Sie an! Keine fromme Lüge kann mir helfen. Ich weiß, daß für mich die Welt zusammengestürzt ist, aber ich muß sehen, was mir noch geblieben ist. Die Wahrheit, Professor, auch wenn sie noch so hart ist!«
Professor Wernhoff nahm die Hand des Fürsten in seine. Kein Fieber, und der wild jagende Puls kam von der Aufregung, den Ängsten und den Seelenqualen.
Also begann Wernhoff: »Sie sind unverletzt geblieben, Durchlaucht. Die Sicherheitsgurte haben wieder einmal einem Menschen das Leben gerettet. Ihre Schmerzen stammen nur von der Prellwirkung. Auch die Schockwirkung…«
»Meine Frau ist tot?« unterbrach Fürst von Wildberg-Kallau den Professor. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Fürst Rainer schloß, von Grauen geschüttelt, die Augen, aber das schreckliche Bild blieb; und ihm war, als hörte er noch immer, und immer wieder, das dumpfe Aufprallen des Körpers am Felsen.
»Tot«, bestätigte der Professor. Seiner Überzeugung nach würde der Patient jetzt sogar den Schock der tragischen Wahrheit eher verarbeiten können als später, wenn er aus der ersten Benommenheit voll erwacht wäre. Außerdem hatten die Krankenschwestern strengsten Auftrag, den Fürsten in keiner Minute unüberwacht zu lassen. Selbstmordgefahr!
»Wo sind die Kinder?« fragte der Fürst beängstigend ruhig. »Sie haben einen Schock erlitten, der sie ihr ganzes Leben lang quälen wird.«
Professor Wernhoff widersprach: