So oft das Geschwisterpaar von Abreise sprach, immer wußte die alte Großherzogin ihrem Sohne vorzustellen, daß er alles tun müsse, es an seinen Hof zu fesseln, da sie Sarah nicht mehr entbehren könne. Dadurch kam es, daß Baronet Tom Seyton of Halesbury zum ersten Stallmeister am großherzoglichen Hofe, zum argen Verdruß aller einheimischen, wahrlich nicht eben geringen Reflektanten, erhoben wurde. Darüber war das erste Vierteljahr verstrichen, und noch immer war kein Wort über Rudolf gefallen, der kurz nach der Ankunft des Geschwisterpaares mit einem Adjutanten und seinem Getreuen, dem Baronet Murph, zu einer Truppen-Inspektion hatte abreisen müssen. Das war für Sarah ein günstiger Zufall, denn sie gewann dadurch Zeit, die Fäden zu ihrem Gewebe zu ordnen, ohne die Aufmerksamkeit des Großherzogs unmittelbar auf sich zu lenken, was durch etwaige Aufmerksamkeiten des jungen Prinzen gegen sie leicht hätte der Fall sein können.
Fünftes Kapitel. Sie Walter Murph und Abbé Polidori.
Rudolf war von Kindheit an schwächlich, und diese Eigenschaft hatte seinen Vater auf den Gedanken gebracht, seine Erziehung englischen Lehrern anzuvertrauen, die im Sport bewandert sind und in dessen Uebung ein gesundheitsförderliches Element erblicken, von dem man in Deutschland zur damaligen Zeit noch so gut wie keine Vorstellung hatte. Seine Wahl fiel auf einen Hünen von Landsassen aus Yorkshire, Sir Walter Murph, dessen Grundsätze und Anschauungen seinen vollen Beifall fanden. Jahrelang residierte nun der Erbgroßherzog in Murphs Gesellschaft auf einem mitten zwischen Wäldern gelegenen kleinen Jagdschlosse, ein paar Stunden von Gerolstein entfernt, und widmete sich allerhand Leibesübungen und landwirtschaftlichen Arbeiten. In der reinen, frischen Landluft schien der Prinz sich förmlich umzuwandeln, die fahle Blässe wich aus seinem Gesicht und machte einer frischen Röte Platz. Er lernte Strapazen ertragen, gewöhnte sich Mut und Energie an und konnte es im Faust und Ringkampfe bald mit Jünglingen aufnehmen, die ihm im Alter weit voraus waren. Nachdem Sir Walter Murph sich seiner Aufgabe zur vollkommensten Zufriedenheit des Großherzogs erledigt hatte, mußte er auf einige Zeit, um Erbschafts- und andere Angelegenheiten zu ordnen, nach England zurückreisen, und nun meinte der Großherzog, seinem Sohne auch eine gediegene wissenschaftliche Bildung geben zu sollen. Hierzu berief er einen gelehrten Mann aus Italien, der den Rang eines Abbé bekleidete und im Rufe eines tüchtigen Philologen, klugen Arztes und hervorragenden Chemikers stand. Diesmal aber war die Wahl des Großherzogs auf keinen Mann von edler Gesinnung, wie Murph es war, gefallen, sondern auf einen heuchlerischen, boshaften und gottlosen Menschen, der unter einer frömmelnden Außenseite den schlimmsten Unglauben verbarg, wohl eine hervorragende Menschenkenntnis besaß, aber die Menschen bloß von ihrer schlimmen Seite her kennen gelernt und ausgenützt hatte, mit einem Worte der gefährlichste Mentor für einen jungen Fürstensohn war, der ihm Zur Seite gestellt werden konnte.
Rudolf gab das freie, ungebundene Leben, das er mit seinem ersten Erzieher geführt hatte, ungern auf und mochte nichts davon wissen, sich hinter die Bücher zu setzen und sich den zeremoniellen Sitten am väterlichen Hofe zu fügen. Vom ersten Augenblick an begegnete er dem italienischen Abbé mit dem äußersten Widerwillen, der seinerseits alles aufbot, sich bei dem jungen Prinzen in Gunst zu setzen, und ihm deshalb in allem freien Willen ließ. Während Rudolf fast allen Unterricht schwänzte, stellte Polidori ihn dem Großherzog als den fleißigsten Schüler dar, den er je besessen, verschwieg ihm des Sohnes Abneigung gegen jedes Studium, drillte ihn für ein paar Prüfungen, die in Gegenwart des Großherzogs abgehalten werden mußten, und erreichte auf diese Weise bei seinem Zöglinge, daß dessen Widerwille schwand und einer gewissen Kordialität das Feld räumte, die aber von der tatsächlichen Liebe und Zuneigung, die er für Murph im Herzen trug, himmelweit verschieden war. Der Italiener war sich darüber keine Sekunde im unklaren, war aber zu pfiffig, es sich im geringsten merken zu lassen, reizte statt dessen die Phantasie des ihm anvertrauten Jünglings durch üppige Schilderungen vom Hof- und Fürstenleben, wie es zurzeit eines Ludwig XIV. geherrscht hatte, und beteuerte wiederholt, daß einem glücklich begabten Fürsten extravagante Genüsse nicht bloß nicht schädlich, sondern vielmehr insofern höchst förderlich seien, als sie seinen Sinn der Gnade und Milde zugänglich machten. Dergleichen Unterhaltungen waren natürlich Gift für ein jugendliches und feuriges Gemüt, und an dem väterlich sittenstrengen Hofe, wo es nur harmlose Zerstreuungen und Genüsse gab, träumte nun Rudolf von wüsten Orgien und tollen Nächten, von Hirschparks-Freuden und hin und wieder wohl auch von einer romantischen Liebelei.
So war ein weiteres Jahr ins Land gegangen. Der wackere Murph war noch immer nicht nach Gerolstein zurückgekehrt, wurde nun dort aber bald erwartet.
Ungefähr zusammen mit ihm tauchten Tom und Sarah am Gerolsteiner Hofe auf, und es dauerte nicht lange, so hatte sich zwischen Tom und Polidori, die beide in dem geraden, ehrlichen Murph einen Todfeind witterten, eine höchst bedenkliche » entente cordiale« herausgebildet. Bald war der Italiener auch über die Absichten nicht mehr im unklaren, die das Geschwisterpaar an den Gerolsteiner Hof geführt hatten. Nun galt ihm der jungen Schottin Anwesenheit in gewissem Sinne als Fingerzeig, daß Rudolfs Phantasie ihn flügge für Liebesaffären gemacht habe, und er nahm sich vor, Sarah mit ihm zusammenzukuppeln. Auf ein Herz, das zum ersten Male in Liebe entflammte, mußte die Schottin – so sagte sich Polidori – einen unverlöschlichen Eindruck machen; sie sollte ihm dazu dienen, Murphs Einfluß auf den jungen Prinzen zu beseitigen. Tom, Sarah und Polidori fühlten sich solidarisch verpflichtet, gegen Rudolfs besten Freund gemeinsam zu Felde zu ziehen: und was kommen mußte, kam denn auch.
Sechstes Kapitel. Erste Liebe.
Rudolf, der nun die schöne Schottin täglich sah, verliebte sich bald rasend in sie, und auch Sarah ließ mit dem Gegengeständnis ihrer Liebe nicht warten, doch unterließ sie nicht, ihn gleich auf den Rangunterschied zu verweisen, der sich ihrem Glücke zweifellos entgegensetzen werde. Sobald nun Tom sah, daß Rudolfs Leidenschaft auf den höchsten Grad gestiegen war, ja daß ein Eclat, der alles verderben könnte, fast unvermeidlich schien, beschloß er, einen Hauptcoup zu führen. Er zog den Italiener ins Vertrauen, dessen Charakter als Abbé ja eine vertrauliche Mitteilung durchaus rechtfertigte, und bekannte ihm, daß die Beziehungen zwischen dem Erbgroßherzog Rudolf und seiner Schwester sich derart gestaltet hätten, daß die Heirat zwischen ihnen unbedingte Notwendigkeit geworden sei, falls er nicht mit der Schwester über Nacht aus Gerolstein verschwinden sollte. Ehe er zugeben könne, daß seine Schwester in Schande fiele, sähe er lieber, sie stürbe. Toms hochfliegender Plan setzte Polidori in helle Verwunderung, denn für so ehrgeizig hatte er Toms Schwesterchen nicht gehalten; er erklärte Tom rückhaltlos, daß der Großherzog in solche Verbindung nun und nimmer willigen werde, und setzte ihm auch die Gründe, die es ihm wehrten, auseinander. Tom wandte gegen diese Gründe nicht das geringste ein, warf aber die Frage auf, ob sich nicht mit einer heimlichen Vermählung rechnen lassen sollte, von der die Öffentlichkeit erst nach dem Ableben des Großherzogs erführe... Da Sarah einer alten Adelsfamilie Schottlands entstammte, wäre solche Lösung vielleicht nicht ausgeschlossen, zumal sie ja nicht ohne Präzedenz sei; Tom ersuchte Polidori in seiner Eigenschaft als Mentor des Prinzen, ihm in längstens acht Tagen bestimmten Bescheid zu geben, da seine Schwester länger nicht mehr in ihrer quälenden Ungewißheit verbleiben könnte.
Der Abbé befand sich in der größten Verlegenheit. Machte er dem Großherzog Anzeige, so lief er Gefahr, sich den präsumptiven Thronfolger auf alle Zeit zu entfremden; klärte er diesen auf über die ehrgeizigen Absichten, die Toms Schwester verfolgte, so setzte er sich in das schiefe Licht, der Dame des prinzlichen Herzens eine Schlappe beifügen zu wollen; wie konnte er ermessen, mit welchen Absichten der junge Prinz sich trüge? wie er eine Moralpredigt hinnehmen würde? Bot er anderseits die Hand zu der von Tom angeregten Heirat, so stand es außer Zweifel, daß er sich nicht bloß Tom und Sarah, sondern auch den Prinzen zu Dank verpflichtete, und so beschloß er auch, doch unter einem bestimmten Vorbehalte, Toms Schwester zu diesem Ehebunde behilflich zu sein.