»Das interessiert mich weniger,« sagte Rudolf, »als wie es kommt, daß Fräulein Lachtaube Herrn Germains Wohnung kennt?« – »Hm, als er auszog,« erklärte die Frau, »sagte Germain zu uns: Briefe erwarte ich keine mehr; sollte aber noch einer kommen, dann geben Sie ihn nur dem Fräulein Lachtaube.« – »Ja,« bemerkte Pipelet, »gegen das Mädchen ließe sich gar nichts sagen, wenn sie nicht die Torheit begangen hätte, sich von diesem Scheusal von Cabrion die Kur machen zu lassen.« – »Ach, schwatz doch kein dummes Zeug!« sagte die Frau, »das liegt doch bloß daran, daß die beiden Leutchen oben zusammen im vierten Stock wohnten. Daß es dem Mädchen nicht ernst darum zu tun war, weißt du ja ebensogut wie ich.« – »Herr Germain hat sich wohl auch mit dem Mädchen ganz gut vertragen?« fragte Rudolf mit einem spöttischen Seitenblicke. – »O, der erst recht,« antwortete eifrig die Frau, »die beiden sind ja ohnehin wie füreinander geschaffen, sind beide hübsch und jung und« ... – »Germain hat das Mädchen also nicht wiedergesehen, seit er aus dem Haus ausgezogen ist?« – »Nein, höchstens einmal Sonntags, was ich natürlich nicht wissen kann. In der Woche nimmt sich das Mädchen keine Zeit, sich mit Liebhabern zu befassen. Zwischen 5 und 6 Uhr ist sie schon auf den Beinen, bis um 10 Uhr arbeitet sie, manchmal sogar bis nach 11, und geht niemals aus ihrer Stube, außer wenn sie Einkäufe zu besorgen hat. Sie ist auch recht gut und mildtätig. Bei den armen Leuten oben unterm Dache, die wahrscheinlich in den nächsten Tagen exmittiert werden dürften, hat sie mit Herrn Germain mehr denn eine Nacht die kranken Kinder gewartet und gepflegt.«
»Was Sie sagen! Also arme Leute wohnen auch hier?« fragte Rudolf. – »Ja,« versetzte die Pförtnerin, »und recht, recht armes Volk! Fünf kleine Kinderchen, die Mutter auf den Tod krank, die Großmutter altersschwach, und der Mann kaum imstande, das trockne Brot zu verdienen.« – »Das sind ja schreckliche Zustände,« sagte Rudolf, »und hilft denn niemand diesen armen Menschen?« – »O, was wir tun können, geschieht ja,« sagte Pipelet, »aber mehr als in unsern Kräften steht, können wir eben auch nicht tun. Seit uns der junge Herr, der Kommandant – wie wir ihn nennen – zwölf Mark im Monat für die Aufwartung gibt, habe ich ja einmal in der Woche Fleisch gekocht und den armen Leuten ein paar Teller Brühe hinaufgetragen. Der arme Germain hat ihnen hin und wieder eine Flasche Wein geschenkt, dabei immer sich so gestellt, als wenn er Wein von seinen Eltern bekäme. Morel – so heißt der arme Mensch, der kaum das trockne Brot verdient, hat dann ein paar kräftige Schlucke genommen und darüber den Hunger vergessen, der ihm die Eingeweide zerriß.«
»Was ist denn der Mann?« – »Er ist Steinschneider und soll in imitierten Waren ein Meister sein, hat sich aber bei dem lungenmörderischen Handwerk vollständig ruiniert. Na, Sie werden ihn ja sehen und sich dann überzeugen, daß ich nicht zuviel gesagt habe. Für sieben Menschen Brot schaffen, ist freilich keine Kleinigkeit. Da heißts sich rühren. Die älteste Tochter geht ihm ja tüchtig zur Hand, aber was ein Mädchen verdienen kann, wenns ehrlich bleiben will, na, das weiß man doch.« – »Wie alt ist das Mädchen?« – »Siebzehn Jahre und bildschön, o, mehr als bildschön! und in Dienst bei einem Notar Ferrand.« – »Was? Beim alten, reichen Ferrand in der Rue du Sentier?« rief Rudolf, über dies neue Zusammentreffen fast mehr noch verwundert als über das frühere, denn eben bei diesem Notar und seiner Wirtschafterin sollte er sich ja doch Auskunft über das unter dem Namen Schalldirne bekannte Mädchen holen.
»Ach, richtig!« sagte die Pförtnerin. »Sie kennen ihn doch nicht etwa?« – »O doch! Er wird von dem Handelshause beschäftigt, in welchem ich angestellt bin,« erklärte Rudolf. – »Nun, dann werden Sie ja wissen, daß er ein arger Geizhals ist? Und was Luise angeht, die Tochter des Steinschneiders oben,« setzte die Frau hinzu, »so mögen es wohl anderthalb Jahre her sein, daß sie bei ihm im Dienst ist. Es ist ein lammfrommes Ding und über die Maßen emsig und fleißig, trotzdem sie einen gar knappen Lohn bekommt, keinen Sou über achtzehn Franks. Sechs braucht sie natürlich für ihren Unterhalt, die andern zwölf aber gibt sie den Ihrigen. Ein Mädel, Herr, wie es ihrer viele sicherlich nicht gibt! Ein Vierteljahr ist der Vater bettlägerig gewesen, die Mutter hat infolge der angestrengten Pflege all ihr bißchen Gesundheit eingebüßt und liegt jetzt auf den Tod krank darnieder; in diesem Vierteljahr haben die sieben Personen von den zwölf Franks des Mädchens gelebt; einiges mögen sie wohl bei der Burette versetzt haben, und ein paar Taler mag ihnen die Geschäftsfrau vorgeschossen haben, für die der arme Mann arbeitet: die Inhaberin des Ladens, meine ich, in welchem die falschen Edelsteine verkauft werden, die der Arme schneidet. Aber wir wollen nicht weiter davon sprechen, denn es kann einem alle Lust am Leben vergehen, wenn man sich mit den Menschen da oben befaßt. Na, ein Glück wenigstens, daß Herr Rotarm ihnen die Wege weisen wird! Es ist ja bedauerlich, daß es den Menschen so traurig geht; aber ein anständiges Haus darf doch nicht unter solchem armen Volke leiden! Na, da will ich Ihnen jetzt Ihre Wohnung zeigen. Kommen Sie, wenn ich bitten darf.«
Drittes Kapitel. Vier Stockwerke.
Die dunkle, feuchte Treppe führte zuerst zu der Wohnung im ersten Stocke, die der unter dem Namen »der Kommandant« bekannte junge schöne Herr, gemietet hatte. Die Tür, die zu ihr führte, war neu gestrichen; am Schlosse blinkte ein vergoldeter kupferner Drücker, und von der schmutziggrauen Wand stach eine schmutzige Klingelschnur mit rotseidner Quaste recht auffällig ab. – Die Tür, die im zweiten Stockwerk zu der Wohnung der Kartenlegerin und Wahrsagerin führte, bot einen noch wunderlicheren Gegensatz zu dem allgemeinen Eindruck, den das Haus bot: über ihr hing eine ausgestopfte Eule, und daneben befand sich ein Schiebefensterchen, das mit Draht stark vergittert war, aber einen Blick auf die Zutritt begehrenden Gäste gestattete. – Vor der Wohnung des italienischen Scharlatans, der nach der im Hause herrschenden Meinung ein höchst sündhaftes Gewerbe trieb, hing eine schwarze Tafel, auf der sein Name mit Pferdezähnen eingegraben stand. Statt des sonst üblichen Hasen- oder Rehfußes endigte die Klingelschnur im Vorderarme eines Affen, der mit der noch daran hängenden Hand in dem vertrockneten Zustande einen widerwärtigen Anblick bot, sah er doch aus, wie wenn er von einem Kinde herrührte.
Rudolf wollte an der Tür vorbeigehen, als er einen Laut wie unterdrücktes Schluchzen hörte, auf den ein schriller Schmerzensschrei folgte. Rudolf fuhr zusammen; schnell wie der Blitz durchfuhr ein Gedanke seinen Sinn, und er trat an die Tür und zog heftig die Klingel. – »Was fällt Ihnen ein, Herr?« fragte der Pförtner erschrocken. – »Haben Sie nicht den Schrei vernommen?« fragte Rudolf. – »Gewiß. Wahrscheinlich zieht Bradamanti wieder jemand einen Zahn aus oder gar ein paar.«
Unwahrscheinlich war ja die Erklärung nicht, wenn man sich das Schild ansah, das über dem Türknopfe hing. Aber sie genügte Rudolf nicht. Zuerst kam keine Spur von einer Antwort, trotzdem Rudolf sehr heftig geklingelt hatte. Nach einer Weile erblickte aber Rudolf hinter einem runden Fenster neben der Tür ein hageres, bleiches Gesicht, das von einem