»Woher kommt das, daß deine Anfälle jetzt häufiger sind?« fragte er manchmal den neuen Koch und schaute ihn von der Seite ins Gesicht. »Du solltest heiraten, soll ich dir eine Frau besorgen?«
Smerdjakow aber wurde bei solchen Reden nur blaß vor Ärger und gab keine Antwort.
Fjodor Pawlowitsch ließ dann von ihm ab und machte eine Handbewegung, als ob er sagen wollte: ›Mit dir ist eben nichts anzufangen.‹
Die Hauptsache war ihm, daß er von Smerdjakows Ehrlichkeit überzeugt war, und zwar ein für allemal. Er glaubte fest, dieser werde ihm nie etwas wegnehmen und stehlen. Fjodor Pawlowitsch hatte einmal in betrunkenem Zustand auf seinem eigenen Hof drei Hundertrubelscheine, die er kurz vorher erhalten hatte, im Schmutz verloren und vermißte sie erst am anderen Tage. Kaum begann er in seinen Taschen zu suchen, als er sie alle drei in seinem Zimmer auf dem Tisch vorfand. Wie war das zugegangen? Smerdjakow hatte sie aufgehoben und schon am Tag vorher hingelegt.
»Na, mein Freund, solche wie dich habe ich noch nicht viele gesehen!« bemerkte Fjodor Pawlowitsch kurz und schenkte ihm zehn Rubel.
Es muß noch hinzugefügt werden, daß er nicht nur von seiner Ehrlichkeit überzeugt war, sondern ihn sogar aus einem nicht recht verständlichen Grund mochte, obgleich der Bursche ihn ebenso scheel ansah wie andere Leute und immer schwieg. Nur selten kam es vor, daß er überhaupt redete. Wäre es bei seinem Anblick damals jemand in den Sinn gekommen zu fragen, wofür sich dieser junge Mensch eigentlich interessiert und was für Gedanken er im Kopf hatte, es wäre wirklich unmöglich gewesen, diese Fragen zu beantworten. Und doch kam es manchmal vor, daß er im Haus oder auf dem Hof oder auf der Straße offenbar gedankenversunken stehenblieb und an die zehn Minuten so dastand. Hätte ihn jemand, der sich auf Physiognomien versteht, so gesehen, würde er gesagt haben, daß es sich dabei gar nicht um wirkliches Denken handelt, sondern um eine Art Versonnenheit. Von dem Maler Kramskoi gibt es ein beachtenswertes Bild mit dem Titel: »Ein Versonnener!« Dargestellt ist ein Wald zur Winterszeit, und auf einem Weg in diesem Wald steht ein armer Bauer in einem dürftigen zerrissenen Kaftan, in alten abgetragenen Bastschuhen, mutterseelenallein, in tiefster Einsamkeit, in Träumereien versunken und anscheinend nachdenklich; doch er denkt nicht nach, er ist, nur »versonnen«. Würde man ihn anstoßen, würde er zusammenfahren und einen anblicken, als ob er aus dem Schlafe erwachte, ohne etwas von allem zu begreifen. Zwar würde er sofort wieder zu sich kommen; würde man ihn aber fragen, woran er soeben gedacht habe, würde er sich gewiß an nichts erinnern. Die Empfindung, unter deren Bann er während seiner »Versonnenheit« stand, würde er wohl allerdings heimlich in seinem Innern bewahren. Diese Empfindungen sind ihm teuer, und er bewahrt sie, ohne daß es jemand merkt und ohne daß er selbst sich dessen bewußt wird; zu welchem Zweck er das tut, weiß er natürlich auch nicht. Vielleicht läßt er, nachdem er solche Empfindungen viele Jahre bewahrt hat, auf einmal alles im Stich und geht nach Jerusalem, um ein Pilgerleben zu führen und seine Seele zu retten; vielleicht zündet er auch plötzlich sein Heimatdorf an; vielleicht tut er auch beides. Es gibt unter dem einfachen Volk ziemlich viel derartiger »Versonnener«. Sicher war auch Smerdjakow einer von ihnen, und sicher bewahrte auch er seine Empfindungen sorgsam, ohne selber zu wissen, wozu.
7. Eine Kontroverse
Wie gesagt, Bileams Eselin hatte auf einmal angefangen zu reden. Es ging um ein seltsames Thema. Als Grigori am Morgen beim Kaufmann Lukjanow einkaufte, hatte er von diesem die Geschichte eines russischen Soldaten gehört, der irgendwo in der Ferne, an der Grenze, bei den Asiaten in Gefangenschaft geraten war. Sie hätten ihn unter Androhung eines qualvollen Todes zwingen wollen, seinem christlichen Glauben abzuschwören und zum Islam überzutreten, er jedoch habe sich geweigert, seinen Glauben zu verraten, habe sich den Foltern unterworfen, sich die Haut abziehen lassen und sei, Christus lobend und preisend, gestorben. Von dieser Heldentat hatte soeben am selben Tage auch eine Zeitung berichtet, und nun hatte auch Grigori davon am Tisch erzählt. Fjodor Pawlowitsch liebte es schon, seit eh und je, nach dem Mittagessen, beim Nachtisch, ein bißchen zu lachen und zu schwatzen, sei es auch nur mit Grigori. Diesmal aber befand er sich in besonders heiterer und redseliger Stimmung. Nachdem er bei einem Glas Kognak zugehört hatte, bemerkte er, einen solchen Soldaten müßte man sofort heiligsprechen und seine abgezogene Haut in irgendein Kloster überführen. »Dann strömt das Volk zusammen, und es kommt Geld ein!« Grigori runzelte die Stirn, als er sah, daß Fjodor Pawlowitsch keineswegs gerührt war, sondern nach seiner alten Gewohnheit über die Religion zu spotten begann. Smerdjakow, der an der Tür stand, lächelte plötzlich. Er hatte auch früher während der Mahlzeit, das heißt gegen deren Ende, oft dabeistehen dürfen. Seit Iwan Fjodorowitsch in unsere Stadt gekommen war, erschien er fast jedesmal zum Mittagessen.
»Was hast du?« fragte Fjodor Pawlowitsch, der das Lächeln sofort bemerkt und natürlich erkannt hatte, daß es sich auf Grigori bezog.
»Meine Ansicht darüber ist die«, begann Smerdjakow ganz unerwartet mit lauter Stimme. »Wenn die Tat dieses braven Soldaten auch sehr heldenhaft war, wäre es doch andererseits auch keine Sünde gewesen, wenn er sich in dieser Lage von Christus und von seiner eigenen Taufe losgesagt hätte, um dadurch sein Leben für spätere gute Taten zu retten. Durch die hätte er im Laufe der Jahre auch seine Kleinmütigkeit wiedergutmachen können.«
»Wie sollte das denn keine Sünde sein? Du redest Unsinn, dafür kommst du geradewegs in die Hölle und wirst wie Hammelfleisch gebraten!« erwiderte ihm Fjodor Pawlowitsch.
In diesem Augenblick trat Aljoscha ein. Fjodor Pawlowitsch freute sich, wie wir gesehen haben, über sein Kommen außerordentlich.
»Wir sind bei einem Thema, das in dein Fach schlägt!« rief er lustig kichernd und forderte Aljoscha auf, sich hinzusetzen und zuzuhören.
»Was das Hammelfleisch anlangt, so ist das nicht so. Es wird mir nichts passieren, und es darf mir auch nichts passieren wenn es gerecht zugeht«, bemerkte Smerdjakow gemessen.
»Was soll das heißen: gerecht?« schrie Fjodor Pawlowitsch noch vergnügter und stieß Aljoscha mit dem Knie an.
»Er ist ein Schuft! Jawohl!«, entfuhr es Grigori, er blickte Smerdjakow zornig in die Augen.
»Was den Schuft anlangt, so warten Sie damit bitte noch ein Weilchen, Grigori Wassiljewitsch«, erwiderte Smerdjakow ruhig und beherrscht. »Sie sollten sich lieber selbst folgendes sagen: Würde ich bei den Peinigern der Christenheit in Gefangenschaft geraten und würden sie von mir verlangen, daß ich den Namen Gottes verfluche und mich von meiner heiligen Taufe lossage, dann hätte ich kraft meiner eigenen Vernunft das volle Recht dazu, denn von einer Sünde kann da keine Rede sein ...«
»Das hast du schon einmal gesagt. Rede nicht unnütze Worte, sondern beweise es!« rief Fjodor Pawlowitsch.
»Bouillonkoch!« flüsterte Grigori verächtlich.
»Was den Bouillonkoch anlangt, so warten Sie bitte damit ebenfalls noch ein Weilchen! Und überlegen Sie selbst, anstatt zu schimpfen, Grigori Wassiljewitsch! In dem Augenblick, wo ich zu meinen Peinigern sage: ›Nein, ich bin kein Christ! Und ich verfluche meinen wahrhaftigen Gott‹, in demselben Augenblick bin ich bereits durch das allerhöchste Gericht Gottes verflucht und aus der heiligen Kirche ausgeschlossen, ganz wie ein Heide. Sogar schon in dem Augenblick, wo ich es noch nicht ausgesprochen, sondern nur beabsichtigt habe, nicht einmal eine Viertelsekunde später, bin ich ausgeschlossen – ist das so oder nicht, Grigori Wassiljewitsch?«
Er wandte sich mit sichtlichem Vergnügen an Grigori, obwohl er in Wirklichkeit nur auf Fjodor Pawlowitschs Fragen antwortete und das sehr wohl wußte. Doch er tat absichtlich, als hätte Grigori diese Fragen an ihn gerichtet.
»Iwan!« rief Fjodor Pawlowitsch plötzlich. »Beug dich mal ganz nah zu mir her! Das hat er alles nur für dich gesagt. Er möchte, daß du ihn lobst. Lob ihn doch!«
Iwan Fjodorowitsch