»Heilige Jungfrau!« schrien die Knaben, »der Eisenhändler kommt wieder!«
Und das Fortlaufen war jetzt an ihnen.
Der Strohsack blieb Herr des Schlachtfeldes.
Belleforêt, der Pater Le Juge und Corrozet versichern, daß er am folgenden Tage mit großem Gepränge von der Geistlichkeit in der Nachbarschaft aufgehoben und in das Schatzgewölbe der Kirche Saint-Opportune gebracht wurde, wo der Sacristan noch 1789 sich eine ziemlich hübsche Einnahme von dem gewaltigen Wunder des Marienbildes an der Ecke der Straße Mauconseil machte, weil es durch seine bloße Nähe in der denkwürdigen Nacht vom 6. zum 7. Januar 1482 den verstorbenen Johann Moubon beschworen hatte, der boshafterweise, und um dem Teufel einen Possen zu spielen, seine Seele beim Sterben in seinen Strohsack versteckt hatte.
6. Der zerbrochene Krug.
Nachdem er eine Zeit lang aus allen Leibeskräften gelaufen war, ohne zu wissen wohin, mit dem Kopfe an manche Straßenecke angerannt, über manchen Rinnstein gesprungen war, manches Gäßchen, manche Sackgasse und manchen Kreuzweg durchschritten hatte, Flucht und Durchgang durch alle Windungen der alten Hallenstraße gesucht, in seiner panischen Furcht alles das erspähet, was das schöne Urkundenlatein »tota via, cheminum et viaria« nennt, blieb unser Dichter plötzlich stehn, zuerst aus Athemlosigkeit, dann von einem Dilemma, welches soeben in seinem Geiste aufgestiegen war, gewissermaßen am Kragen festgehalten. »Es scheint mir, Meister Peter Gringoire,« sagte er zu sich selbst, wobei er den Finger auf die Stirn setzte, »daß Ihr da wie ein Kopfloser rennt. Die kleinen Taugenichtse haben nicht weniger Furcht vor Euch, als Ihr vor ihnen gehabt. Es scheint mir, sage ich Euch, daß Ihr das Getöse ihrer Holzschuhe gehört habt, welches sich nach Süden verlor, während Ihr nach Norden floht. Nun ist von zwei Fällen einer gewiß: sie haben entweder die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken vergessen haben müssen, gerade das gastliche Lager, nach welchem Ihr seit heute Morgen gelaufen seid, und welches Euch die heilige Jungfrau wunderbarerweise geschickt hat, um Euch dafür zu entschädigen, daß Ihr zu ihrer Ehre ein mit Aufzügen und Mummereien ausgestattetes Schauspiel gemacht habt; oder die Knaben haben die Flucht nicht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Brand an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das treffliche Feuer, welches Ihr nöthig habt, um Euch zu ergötzen, zu trocknen und wieder zu wärmen. In beiden Fällen, sei es ein gutes Feuer oder gutes Lager, ist der Strohsack ein Geschenk des Himmels. Die gesegnete Jungfrau Maria an der Ecke der Straße Mauconseil hat vielleicht den Johann Moubon deshalb sterben lassen; und es ist eine Thorheit von Euch, so in toller Flucht davonzulaufen, wie ein Picarde vor einem Franzosen und hinter Euch zu lassen, was Ihr vorn suchet; und Ihr seid ein Narr!« –
Darauf kehrte er auf demselben Wege zurück und bemühte sich, während er nach der Himmelsgegend ausschaute und mit Nase und Ohr herumspionirte, den köstlichen Strohsack wiederzufinden, doch vergebens. Nichts als Häuserdurchschnitte, Sackgassen, Straßenmündungen waren es, zwischen denen er zaudernd stand und beständig überlegte, und in diesem Wirrsal dunkler Gäßchen mehr behindert und aufgehalten, als er selbst im Irrgange des Parlamentsgerichtspalastes gewesen wäre. Endlich verlor er die Geduld und rief feierlich aus: »Verdammt seien die Gassen! Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner Ofengabel gemacht!«
Dieser Fluch erleichterte sein Herz ein wenig, und ein gewisser röthlicher Schimmer, den er in diesem Augenblicke am Ende einer langen und engen Gasse bemerkte, weckte schließlich seine Lebensgeister wieder. »Gott sei gelobt!« sagte er, »da unten ist's! Das ist mein Strohsack, der brennt!« Und sich mit dem Steuermanne vergleichend, welcher nachts umschlägt, setzte er fromm hinzu: »Salve salve, maris stella!« Richtete er dieses Litanei-Fragment an die heilige Jungfrau oder an den Strohsack? Wir wissen es nicht sicher.
Kaum hatte er einige Schritte in der langen Straße gethan, welche sich senkte, nicht gepflastert war und immer kothiger und abschüssiger wurde, als er etwas recht Sonderbares bemerkte. Sie war nicht öde: hier und da krochen einzelne und unförmliche Klumpen der Länge der Straße nach, und richteten sich nach dem Schimmer hin, welcher am Ende derselben zitterte, gleich jenen plumpen Insecten, die nachts von Grashalm zu Grashalm auf das Feuer eines Hirten zukriechen. Nichts macht den Menschen waghalsiger, als eine leere Tasche. Gringoire ging darauf los und hatte bald dasjenige dieser Gespenster eingeholt, welches sich am langsamsten hinter den andern dreinbewegte. Als er näher herankam, sah er, daß es nichts anderes als ein elender Krüppel war, welcher auf seinen beiden Händen fortkroch, wie eine verwundete Weberspinne, welche nur noch zwei Beine hat. In dem Augenblicke als er an dieser Art Spinne mit Menschengesicht vorbeikam, erhob sie ihre klägliche Stimme: »La buona mancia, signor! la buona mancia!«
»Hole dich der Teufel!« sagte Gringoire, »und mich dazu, wenn ich verstehe, was du sagen willst!«
Und er ging weiter.
Er holte einen andern dieser wandelnden Klumpen ein und betrachtete ihn. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig zugleich, und zwar derartig, daß die verwickelte Zusammenfügung von Krücken und Holzbeinen, auf welche er sich stützte, ihm das Ansehen eines wandelnden Mauergerüstes gaben. Gringoire, welcher die edlen und klassischen Vergleiche liebte, verglich ihn in Gedanken mit dem lebenden Dreifuß des Vulkan.
Dieser lebende Dreifuß grüßte ihn im Vorbeigehen, wobei er seinen Hut wie ein Barbierbecken unter Gringoire's Kinn hielt und ihm in die Ohren schrie: »Señor caballero, para comprar un pedazo de pan!«
»Es scheint,« sagte Gringoire, »daß der auch spricht; aber es ist eine rohe Sprache, und er ist glücklicher als ich, wenn er sie versteht.«
Dann griff er sich, infolge eines plötzlichen Ideentausches, an die Stirn: »Da fällt mir ein – was der Teufel wollten die heute Morgen mit ihrer ›Esmeralda‹ sagen?«
Er wollte seine Schritte verdoppeln, aber zum dritten Male versperrte ihm wieder etwas den Weg. Dieses Etwas, oder vielmehr dieser Jemand, war ein kleiner Blinder mit jüdischem, bärtigen Gesichte, welcher den Ort rings um sich her mit einem Stocke betastete und von einem großen Hunde gezogen, ihm mit ungarischem Accente zunäselte: »Facitote caritatem!«
»Gott sei Dank!« sagte Peter Gringoire, »da ist doch endlich jemand, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß wohl recht wie Almosengeben aussehen, daß man mich bei dem magern Zustande, in dem sich meine Börse befindet, so um ein Almosen bittet.«
»Mein Freund (er wandte sich an den Blinden), ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft; das heißt, weil Ihr nur die Sprache Cicero's versteht: Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.«
Nach diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Aber der Blinde begann zu gleicher Zeit, wie er, seine Schritte zu verdoppeln; und auch der Lahme und der Krüppel machten sich ihrerseits mit großer Hast und lautem Napf- und Krückengeklapper auf dem Pflaster hinter ihm her. Dann schrien alle drei zugleich hinter dem armen Gringoire her, jeder sein Lamento.
»Caritatem!« heulte der Blinde.
»La buona mancia!« heulte der Krüppel.
Und der Lahme vollendete den Singsang, indem er wiederholte:
»Un pedazo de pan!«
Gringoire hielt sich die Ohren zu: »O Thurm zu Babel!« rief er.
Er fing an zu laufen. Der Blinde, der Lahme, der Krüppel jagten hinter ihm her. Und je weiter er in die Straße hineindrang, vermehrten sich Krüppel, Blinde, Lahme um ihn her, und Einarmige, Einäugige, Aussätzige mit ihren Wunden kamen aus den Häusern, aus den kleinen Straßen nebenan, aus den Kellerthüren, heulend, brüllend, kreischend, alle humpelnd, ungern, nach dem Lichte zu eilend und im Kothe sich wälzend wie Schnecken nach dem Regen.
Gringoire, immer von seinen drei Verfolgern begleitet, wußte nicht recht, was daraus werden sollte, und lief bestürzt mitten unter den andern, stieß die Lahmen bei Seite, stolperte über die Krüppel, die Füße in den Haufen der Hinkenden