Ein Schrei des Entsetzens erscholl in der That. Der furchtbare Quasimodo hatte sich von dem Tragsessel heruntergestürzt, und die Weiber hatten die Augen weggewandt, um nicht zu sehen, wie er den Archidiaconus in Stücke reißen würde. Er that einen Sprung auf den Priester los, sah ihm ins Gesicht und fiel auf die Knien nieder. –
Der Priester entriß ihm seine Tiara, zerbrach ihm den Bischofsstab und zerfetzte seinen Flittergoldmantel.
Quasimodo blieb auf den Knien liegen, neigte den Kopf und faltete die Hände.
Darauf entspann sich zwischen ihnen ein sonderbares Zwiegespräch aus Zeichen und Geberden; denn weder der eine noch der andere sprach ein Wort: der Priester aufgerichtet, erzürnt, drohend, herrisch, Quasimodo niedergeschmettert, demüthig, flehend. Und doch ist es sicher, daß Quasimodo den Priester mit dem Daumen hätte zerreißen können.
Endlich rüttelte der Archidiaconus Quasimodo heftig an der Schulter und gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben und ihm zu folgen.
Quasimodo erhob sich.
Jetzt wollte die Genossenschaft der Narren, nachdem das erste Staunen vorüber war, ihren so plötzlich entthronten Papst beschützen. Die Zigeuner, die Gauner und die ganze Gerichtsschreibergilde schaarten sich schreiend um den Priester.
Quasimodo stellte sich vor den Geistlichen, ließ die Muskeln seiner athletischen Fäuste spielen und sah die Angreifer mit dem Zähnefletschen eines gereizten Tigers an.
Der Priester nahm seine düstere Würde wieder an, machte Quasimodo ein Zeichen und zog sich schweigend zurück.
Quasimodo ging vor ihm her und stieß die Menge auf seinem Wege bei Seite.
Als sie durch die Menge hindurch waren und den Platz überschritten hatten, wollte der Schwarm der Neugierigen und Müßiggänger ihnen folgen. Quasimodo bildete jetzt die Nachhut und folgte dem Archidiaconus rückwärts, tückisch, entsetzlich, struppig, indem er seine Gliedmaßen zusammenraffte, wie ein Eber seine Stoßzähne leckte, wie ein wildes Thier brüllte, und der Menge mit einer Bewegung oder Miene das größte Entsetzen einjagte.
Man ließ sie beide in einer engen und finstern Straße verschwinden, wohin sich niemand hinter ihnen her wagte, so sehr versperrte der bloße Gedanke an den zähnefletschenden Quasimodo den Eintritt in dieselbe.
»Wahrhaftig, das ist höchst sonderbar,« sagte Gringoire, »aber wo zum Teufel werde ich etwas zum Abendessen finden?«
4. Unannehmlichkeiten, die entstehen, wenn man einem hübschen Frauenzimmer abends in den Straßen nachgeht.
Gringoire hatte sich angeschickt, der Zigeunerin aufs Gerathewohl zu folgen. Er hatte sie mit ihrer Ziege die Straße de la Coutellerie einschlagen sehen; er hatte auch die Straße de la Coutellerie eingeschlagen.
»Warum nicht?« hatte er sich gesagt.
Gringoire hatte, als praktischer Philosoph der Straßen von Paris, die Bemerkung gemacht, daß der Träumerei nichts so günstig ist, als einem hübschen Frauenzimmer zu folgen, ohne daß man weiß, wohin sie geht. Es liegt in dieser freiwilligen Entäußerung seines freien Willens, in dieser Phantasie, welche sich einer andern unterordnet, ohne daß sie es ahnt, ein Gemisch von eigensinniger Unabhängigkeit und blindem Gehorsam, so zu sagen ein Mittelding zwischen Sklaverei und Freiheit, welches Gringoire, dem von Natur unklaren, unentschiedenen und sanguinischen Kopfe, gefiel, der alle Extreme in sich vereinigte, und unaufhörlich zwischen allen menschlichen Neigungen schwankend, eine durch die andere vereitelte. Er verglich sich selbst gern mit Muhameds Grab, welches nach entgegengesetzten Seiten von zwei Magneten gezogen wird, und ewig zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Wölbung und Boden, zwischen Fall und Aufflug, zwischen Zenith und Fußpunkt schwankt.
Wenn Gringoire heutzutage lebte, welche schöne Mitte würde er zwischen Klassischem und Romantischem einhalten!
Aber er war nicht naiv genug, um drei Jahrhunderte lang zu leben, und das ist schade. Sein Fehlen verursacht eine Leere, die sich heutzutage nur zu sehr fühlbar macht.
Doch, um in den Straßen den Passanten (und vor allem den Passantinnen) nachzugehen, giebt es keine bessere Veranlassung, als nicht zu wissen, wo sein Haupt niederlegen.
Er ging also, ganz in Gedanken versunken, hinter dem jungen Mädchen her, das seine Schritte beschleunigte und die niedliche Ziege Trab machen ließ, als es sah, daß die Bürger heimkehrten und die Weinschenken, die einzigen Geschäfte, welche an diesem Tage geöffnet waren, sich schlossen.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach,« dachte er ohngefähr, »muß sie doch wohl irgendwo wohnen; die Zigeunerinnen sind gutmüthig. Wer weiß? ...«
Und in seinem Kopfe entstanden nach diesem Fragezeichen, welches seinem Schweigen folgte, gewisse, ziemlich liebliche Vorstellungen. Dabei erhaschte er, während er vor den letzten Gruppen der Bürger, die ihre Thüren schlossen, vorbeiging, manches Bruchstück ihrer Unterhaltungen, welches die Kette seiner lieblichen Vermuthungen zerriß.
Jetzt waren es zwei Alte, welche sich anredeten.
»Meister Thibaut Fernicle, wißt Ihr was, es ist kalt.«
(Gringoire wußte das seit Anfang des Winters.)
»Jawohl, Meister Bonifaz Disome! Werden wir wieder einen Winter, wie vor drei Jahren, haben, anno Achtzig, als das Holz acht Sols kostete, die Klafter?«
»Bah! Das ist nichts, Meister Thibaut, im Vergleich mit dem Winter von 1407, wo es von Martini an bis Lichtmeß fror! Und mit einer solchen Wuth, daß die Feder des Parlamentsactuars von drei zu drei Worten in der Schreibstube einfror! Das verhinderte sogar das Aufschreiben der Urtheile.«
Weiter hin waren es Nachbarinnen an ihren Fenstern, mit Kerzen in der Hand, welche der Nebel knistern ließ.
»Hat Euch Euer Mann das Unglück erzählt, Frau La-Boudraque?«
»Nein! Was ist es denn, Jungfer Turquant?«
»Das Pferd des Herrn Gilles Godin, des Notars am Châtelet-Gerichtshofe, welches sich vor den Flamländern und ihrem Umzug scheuete, hat Meister Philippot Avrillot, den Laienbruder bei den Cölestinern, niedergerissen.«
»Wahrhaftig?«
»Gewiß.«
»Ein gewöhnliches Pferd! Das ist ein wenig stark. Wenn es noch ein Ritterpferd gewesen wäre, ja dann!«
Die Fenster schlossen sich. Aber Gringoire hatte nicht minder den Faden seiner Gedanken verloren. Glücklicherweise fand er ihn bald wieder und knüpfte ihn ohne Mühe wieder an, Dank der Zigeunerin, Dank Djali, welche immer vor ihm hermarschirten: zwei zarte, feine, reizende Geschöpfe, deren kleine Füße, liebliche Formen und zierliche Manieren er bewunderte, und sie in seiner Betrachtung fast verwechselte, weil er, was Klugheit und Freundschaft anbetrifft, alle beide für junge Mädchen, was Leichtigkeit, Gewandtheit und Schnelligkeit des Ganges betrifft, beide für Ziegen hielt.
Die Straßen wurden indessen jeden Augenblick dunkler und einsamer. Die Abendglocke war schon lange geläutet worden, und man begann nachgerade nur hier und da noch einen Fußgänger auf der Straße, ein Licht an den Fenstern anzutreffen. Gringoire war bei der Verfolgung der Zigeunerin in das unentwirrbare Labyrinth von Straßen, Gassen und Sackgassen gerathen, welches die alte Grabstätte von Saint-Junocent umgiebt, und die einem Fadengewirr gleicht, das eine Katze zerzaust hat. –
»Das sind mir Straßen, die sehr wenig Logik haben!« sagte Gringoire, verloren in den tausend Umwegen, die fortwährend in sich selbst zurückliefen, aber in denen das junge Mädchen einen ihr anscheinend sehr bekannten Weg einschlug, ohne zu zögern und mit immer geschwinderen Schritten. Was ihn betrifft, so würde er gewiß nicht gewußt haben, wo er wäre, wenn er im Vorbeigehen an der Krümmung